Die CVP hat Grosses geleistet. Im 19. Jahrhundert integrierte sie die Katholiken in den Bundesstaat. Im 20. Jahrhundert bildete sie das Scharnier zwischen Freisinn und Sozialdemokratie. Die Christdemokraten sind die Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft.
Leider weiss niemand, welche Rolle die CVP im 21. Jahrhundert spielen könnte. Land und Partei haben sich auseinandergelebt. Seit 1979 schrumpft der Wähleranteil von damals 21,3 auf 11,6 Prozent 2015. Nun wird der Niedergang für alle Welt sichtbar: Es gilt, den wichtigsten Posten im Land zu besetzen, doch ins Rennen um den frei werdenden Bundesratssitz steigen für die CVP lauter Unbekannte.
Viola Amherd, Peter Hegglin, Elisabeth Schneider-Schneiter, Heidi Z’graggen: Die Kandidatenliste der CVP ist eine Ansammlung von Einzelmasken. Das sagt nichts über das Potenzial dieser Politiker; die Kandidatur der Urner Regierungsrätin Z’graggen ist sogar ein erfrischender Aufsteller. Tatsache aber bleibt: Keiner hat sich bislang einen Namen über die Grenzen des eigenen Kantons hinaus gemacht.
Die Kandidaturen von Amherd bis Z’graggen zeigen: Die schweizerische CVP lässt sich von niemandem repräsentieren, weil diese CVP gar nicht mehr existiert. Womit wir es hier zu tun haben, ist ein versprengtes Häufchen Elend, das mit der historischen CVP nur den Namen gemein hat.
Oder gibt es eine Ausnahme? Es mehren sich Stimmen, die Gerhard Pfister als Bundesrat ins Spiel bringen. Obschon er sich als Parteipräsident eingemittet hat, sehen viele Rechte in ihm nach wie vor einen Verbündeten.
Diesen Punkt haben seine Fans auf alle Fälle: Als Parteichef dürfte Pfister – neben Doris Leuthard – der Einzige sein, für den das Prädikat «CVP-Schwergewicht» wirklich noch zutrifft.
Wahr ist überdies: Als einziger CVP-Politiker im Bundeshaus hat der 56-Jährige den Auftritt eines Christdemokraten alter Schule. Er wirkt wie der letzte Vertreter jener historischen CVP, die ja eigentlich gar nicht mehr existiert.
Zum Stallgeruch der alten CVP-Elite gehörte die humanistisch-christlich-patriarchale Bildung, der Latein- und Griechischunterricht an einer Klosterschule. Flavio Cotti hat das Kollegium der Benediktiner in Sarnen besucht, Arnold Koller das Kapuziner-Gymnasium in Appenzell, Alphons Egli die Stiftsschule Engelberg, Hans Hürlimann jene von Einsiedeln. Bei Gerhard Pfister ist es die Klosterschule Disentis.
Dieser Hintergrund dringt bei ihm stets durch. Doch Pfisters Biografie hat einen entscheidenden Unterschied zum klassischen CVP-Lebenslauf. Zu einem solchen gehörte – nach der Klosterschule – das Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg. Gerhard Pfister indes hat sich für Germanistik und Philosophie entschieden.
Seiner Doktorarbeit aus dem Jahr 2000 stellt Pfister ein Zitat des Schriftstellers Peter Handke voran: «Das ist für mich überhaupt die Metapher für den Künstler: der schwermütige Spieler, der sich auf ein Spiel eingelassen hat, wo er überhaupt nicht weiss, was es ihn kosten wird.» Einem Dr. iur. Kurt Furgler, einem lic. iur. Flavio Cotti hätte man mit derlei Sätzen nicht kommen müssen. Die alten CVP-Granden interessierten sich nicht für Abstraktes – ihnen ging es um die Macht und darum, die Politik zu gestalten. Für Gerhard Pfister als Germanist, Philosoph und Chef einer Partei im Niedergang dagegen sind Politik und Macht zunächst etwas, worüber man intensiv nachdenkt. Die Tat kommt dann erst an zweiter Stelle.
In diesem Sinne trennen Pfister letztlich eben doch Welten von der alten CVP.
Und worüber denkt er derzeit besonders nach? Über eines gewiss: Vielleicht erhält die CVP jetzt letztmals einen Bundesrat – schon bald könnte die Partei keinen Anspruch mehr auf einen Sitz in der Regierung haben.
Ob Pfister auch darüber nachdenkt, wie er es hinkriegt, selber zu diesem letzten CVP-Bundesrat gewählt zu werden, obwohl er ja offiziell gar nicht kandidiert? Die Antwort auf diese Frage behält der schwermütige Spieler selbstredend für sich.