Die Schweiz während der Nazi-Herrschaft in Deutschland und zur Zeit des Zweiten Weltkriegs – ja, wurde da nicht alles längst untersucht? In der Tat haben namentlich die Historiker der Bergier-Kommission vor rund zwanzig Jahren Bleibendes geschaffen. Akribisch beleuchteten sie die vielfältigen, intensiven Wirtschaftsbeziehungen zwischen unserem Land und dem «Dritten Reich». Auch vervollständigten sie das bereits zuvor bekannte Bild einer antisemitisch geprägten Schweizer Flüchtlingspolitik mit zahlreichen weiteren Befunden.
Und doch gab es in der Forschung bislang einen grossen blinden Fleck. 391 Schweizerinnen und Schweizer waren in den Konzentrationslagern der Nazis inhaftiert, 201 haben nicht überlebt. Weitere 255 KZ-Opfer, die in der Schweiz geboren wurden, aber nicht die Schweizer Staatsbürgerschaft besassen, starben ebenfalls.
In jahrelanger minutiöser Arbeit haben drei Autoren diese Zahlen recherchiert. Und sie leisten bei weitem mehr als nur dies: In dem übermorgen Dienstag erscheinenden Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge» beschreiben Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid die Dynamik der nationalsozialistischen Terrorherrschaft – und wie die Schweiz schon früh darauf bedacht war, die guten Beziehungen zum Unrechtsstaat unter keinen Umständen aufs Spiel zu setzen. Schon ab Herbst 1935 verzichtete Bern mit Vorsatz darauf, sich für den Schutz der eigenen Bürger in Deutschland einzusetzen. Die Behörden schwiegen, wenn Schweizer von Nazis misshandelt wurden. Sie taten dies im vollen Bewusstsein um das Leid, das sie auf diese Weise mit verschuldeten.
Es ist unter anderem dieser Opportunismus, der es unmöglich macht, das Buch als blosse historische Untersuchung zu lesen. «Die Schweizer KZ-Häftlinge» ist eine intellektuelle Intervention zum richtigen Zeitpunkt. Das Autorentrio zeigt auf, wohin Rassismus und ideologische Verblendung ebenso wie ein Mangel an Rückgrat und der Vorrang von Wirtschaftsinteressen führen können.
Mehr als ein Geschichtswerk ist «Die Schweizer KZ-Häftlinge» aber noch aus einem anderen Grund. Am meisten Platz wird den Schicksalen der Schweizer Nazi-Opfer eingeräumt, das macht «Die Schweizer KZ-Häftlinge» zu einem zutiefst menschlichen Buch. Die vermutlich letzte Schweizer Überlebende des Nazi-Terrors, Hélène Spierer, starb am 8. Februar dieses Jahres. Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid setzen ihr und allen anderen Opfern nun ein würdiges Denkmal.
Beim SonntagsBlick sind wir stolz darüber, dass einer der Autoren Mitglied unserer Redaktion ist. Als Leiter des SonntagsBlick Magazins hat Benno Tuchschmid ein besonderes Talent dafür, sensible Themen lesernah aufzubereiten. Solange es solche engagierte Journalisten gibt, braucht einem um den Journalismus nicht bange zu werden.