Schriftsteller Lukas Bärfuss kritisiert den Achtsamkeitskult
Weniger Rosinen anstarren, mehr engagieren

Überall wird Achtsamkeit propagiert. Bei Stress soll der Mensch durchatmen – und bisweilen eine Rosine
 anstarren. Doch dieser Fokus aufs Innere ist gefährlich, schreibt Lukas Bärfuss. Um die Gesellschaft zu verändern, braucht es gemeinsames, politisches Engagement.
Publiziert: 07.09.2019 um 14:27 Uhr
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Aktualisiert: 27.09.2019 um 16:04 Uhr
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Schriftsteller Lukas Bärfuss macht sich in seinem Essay Gedanken über die Achtsamkeitspraxis.
Foto: Philippe Rossier
Lukas Bärfuss

Stress ist ein Gesundheitsrisiko, er macht krank und unglücklich. Doch wir sind ihm nicht hilflos ausgeliefert. Eine erfolgreiche Methode ist die sogenannte «Mindfulness-Based Stress Reduction», die Stressreduktion durch Achtsamkeitspraxis. Ihre Wirksamkeit wurde in zahlreichen wissenschaft­lichen Studien belegt, ihre Heilkraft ist mittlerweile unbestritten. Menschen, die sich in ihr üben, sind ausgeglichener und leistungsfähiger. Ihr Immunsystem wird gestärkt, und sie haben mehr Freude am Leben.

Wenn selbst die grösste Krankenversicherung der Schweiz eine Kampagne zu ihrer Verbreitung startet, dann kann man endgültig davon ausgehen, dass die Sache Hand und Fuss hat. Eine Krankenkasse verfolgt schliesslich finan­zielle, keine weltanschaulichen Ziele. Menschen gesund zu halten, liegt in ihrem wirtschaftlichen ­Interesse.

Die Gründe für Stress sind vielfältig. Die Wirtschaft, die Politik, die Umwelt, nicht selten auch das Privatleben – das alles ist gründlich durcheinanderge­raten. Und man versteht jeden, der in diesem Tumult seinen inneren Frieden sucht und sich der Achtsamkeitspraxis zuwendet. Zu ihrer Wirksamkeit gesellt sich der Vorteil der geringen Kosten. ­Alles, was man braucht, um sich mit ihr zum ersten Mal vertraut zu machen, ist eine Rosine.

Es wäre billig, sich über Achtsamkeitsübungen lustig zu machen

Dieser ganz gewöhnlichen getrockneten Weinbeere widmet man nun für einige Minuten seine ungeteilte Hirnleistung. Dabei mag man sich gewahr werden, dass dieses wundersame Ding von seltsamen Furchen durchzogen ist und dass diese Furchen unter Umständen ein hübsches Muster bilden. Dieses Muster sollte man einen Moment studieren.

Lukas Bärfuss

Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, ­einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein ­Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.

Der Schweizer Erfolgsautor Lukas Bärfuss.
Der Schweizer Erfolgsautor Lukas Bärfuss.
Philippe Rossier

Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, ­einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein ­Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.

Das Erstaunen wird noch wachsen, sobald man vom visuellen zum olfaktorischen Eindruck wechselt, die Rosine an die Nase hält und feststellt, wie ungemein vielfältig die Geruchsnoten einer Weinbeere sein können. Die Effekte dieser Übung sind ganz erstaunlich. Man hört tatsächlich von Menschen, deren Weltsicht sich im Moment, da sie sich in einem finalen Akt die Weinbeere auf die Zunge legten, schlagartig änderte. Die Geschmacksexplosion habe ihnen das Wunder des Universums offenbart.

Es wäre billig, sich darüber lustig zu machen. Was ist schlecht daran, sich an den kleinen Dingen des Alltags zu erfreuen, und sei es nur eine Rosine? Und was ist falsch daran, auf die ­grossen Probleme, die uns ­täglich das ­Leben zur Hölle machen, mit ­einem ­Lächeln zu antworten?

Ohne Zweifel, Achtsamkeit funktioniert. Leider ist das kein Grund zur Freude, im Gegenteil, es ist Anlass zu grösster Sorge. Gerade ihre Tauglichkeit und ihre Verbreitung sollten einen modernen Menschen erschrecken.

Achtsamkeitspraxis ist ein Problem, keine Lösung. Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass ihr Erfolg für manches steht, das die Fundamente unserer Gesellschaft bedroht.

Denken und Tun können wir beeinflussen

Wie schreibt doch die Stressexpertin auf der Kampagnen-Website der Krankenversicherung? «Lernen Sie zu unterscheiden zwischen den Belastungen, die beeinflussbar sind, und jenen, die es nicht sind. Es gibt nun mal einfach äussere, auch durch die Gesellschaft bedingte Belastungen, welche der Einzelne nicht wirklich beeinflussen kann. Darum ist es wichtiger, sich auf die inneren Belastungen zu konzentrieren.»

Wer in der philosophischen Literatur etwas bewandert ist, wird sich bei diesen Sätzen an Epiktet erinnern, der vor beinahe zweitausend Jahren in seinem «Handbüchlein der Moral» ähnliche Vorschläge macht. «Von den Dingen», schreibt er da, «stehen die einen in unserer Gewalt, die anderen nicht. In unserer Gewalt steht unser Denken, unser Tun, unser Begehren, unsere ­Abneigung, kurz: alles, was von uns selber kommt.»

Klingt genau wie die Grundlage zur Achtsamkeitspraxis. Und wer könnte dieser Einsicht widersprechen? Niemand ist allmächtig, und allzu oft wird man sich durch ein Unglück oder eine Krankheit seiner eigenen Ohnmacht bewusst.

Etwas stutzig wird man vielleicht erst bei den nächsten Sätzen dieses erstaunlichen Philosophen: «Nicht in unserer Gewalt steht unser Leib, unsere Habe, unser Ansehen, unsere äussere Stellung.» Das ist seltsam. So völlig ­hilflos, wie Epiktet behauptet, ­erleben wir uns hoffentlich nicht. Und doch vertritt er damit nur eine Haltung, die der Achtsamkeitspraxis ­zugrunde liegt: Kümmere dich nicht ­zuerst um deine Umwelt, kümmere dich um deine Gefühle und um deine Atmung!

Jedes Denken ist ein Spiegel der ­politischen Verhältnisse. Epiktet war ein Vertreter der Stoa, einer äusserst einflussreichen philosophischen Schule, welche die Kontrolle der inneren Welt zum höchsten Ziel eines Menschen erklärte. Der Philosoph geht dabei weit, sehr weit. Wer seinen ganzen Besitz verliere, solle sich nicht grämen, und man solle selbst dann nicht traurig sein, wenn einem das eigene Kind oder die Ehefrau durch den Tod entrissen werde. All dies sei nur geliehen, man habe es durch den Verlust einfach ­zurückgegeben. 

Das klingt extrem, aber für Epiktet und seine Zeitgenossen war dies eine alltägliche Erfahrung. Er selbst war nämlich ein Sklave und wurde unter der Herrschaft des Nero ­geboren, der letzte Kaiser jener Dynastie, die Augustus begründet hatte. Dieser Despot hatte mit der römischen ­Republik aufgeräumt, den Senat entmachtet und eine Alleinherrschaft errichtet.

Zen-Buddhismus, Achtsam­keits­praxis und totalitäre Ideen

Wer nicht auf seiner Seite war, wurde auf die Proskriptionslisten gesetzt, was nichts anderes bedeutete, als dass er und seine Familie umgebracht und sein Eigentum unter die Willfäh­rigen verteilt wurde. Jeder Versuch, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, war zu dieser Zeit lebensgefährlich, und die Stoa wurde zu einer Möglichkeit, einen Weg aus der eigenen Ohnmacht zu finden. Wer nicht glaubt, Einfluss auf die Welt nehmen zu können, der wird sich in die Gestaltung seiner Innenwelt flüchten.

Zugegeben: Obwohl ihre Lehren von Epiktet abgeschrieben sein könnten, berufen sich die wenigsten der Achtsamkeitsapostel auf den alten Römer. Jon Kabat Zinn, der einflussreichste unter ihnen und übrigens Erfinder der Rosinenübung, bezieht sich vor allem auf den Zen-Buddhismus. Dessen ­Geschichte weist allerdings viele Parallelen mit der Stoa auf. Wie sie erlebte Zen seine Blüte als Ideologie einer totalitären Herrschaft – einer Militärdiktatur, um genau zu sein.

In der Zeit der japanischen Sho­gune lag die Macht bei den Soldaten, den Samurai. Ihr Machtmittel war nicht die Politik, sondern der Krieg. Schwertkampf ist eine blu­tige Angelegenheit und verursacht natürlicherweise Stress; sein Abbau ist eine notwendige Strategie, um im Gemetzel einen möglichst kühlen Kopf zu bewahren. Hier bewährt sich die Achtsamkeitspraxis ganz vorzüglich. Eine gewisse Unempfindlichkeit gegenüber äusseren Eindrücken hilft sicher beim Aufschlitzen der Gedärme seines Gegners.

Zen-Buddhismus und Achtsam­keits­praxis verbinden sich ganz vorzüglich mit totalitären Ideen. Eines der erfolgreichsten Bücher in diesem bestimmten Genre und bis heute in ­vielen Buchhandlung vorrätig, ist «Zen in der Kunst des Bogenschiessens» und stammt von Eugen Herrigel, geboren 1884, seines Zeichens Japanologe und Mitglied der NSDAP. Er war mit Karl­fried Graf Dürckheim befreundet, einem deutschen Diplomaten und ebenfalls überzeugten Nazi.

Herrigel und Dürckheim sind wesentlich für die Verbreitung von Zen und damit der Achtsamkeitspraxis im Westen verantwortlich. Dürckheim war ein Veteran des Ersten Weltkriegs, was seine Vorliebe für Zen erklärt. Selbst die unerträglichsten Grausamkeiten mit Gleichmut zu ertragen, ist auch im Westen eine solda­tische Notwendigkeit. Und eine gewisse Unempfindlichkeit ist auch heute, im entfesselten Kapitalismus, eine hilfreiche Kompetenz, um in den täglichen Kämpfen zu bestehen.

Weltflucht als Ursache der gegenwärtigen Krise

Die Resignation, die Weltflucht, die im Achtsamkeitskult zum Ausdruck kommen, sind deshalb gleichzeitig Symptom und Ursache der gegen­wärtigen Krise. Wer mit dieser erwähnten Stressexpertin die Meinung teilt, dass die Gesellschaft nicht verändert werden kann und man den Stress, der ihre Widersprüche und Zumutungen produziert, durch geistige Übungen und nicht durch gemeinsames, also politisches Engagement bekämpfen soll, kann letztlich kein Demokrat sein.
Demokratisches Engagement bedeutet, in die Welt hinauszutreten und an die Möglichkeit zu glauben, dass die Gesellschaft verändert werden kann.

Wer sich von den Mitmenschen isoliert, wer sich die meiste Zeit des Tages nur auf seinen Atem konzentriert, sollte sich vielleicht fragen, warum er ausser Atem ist und was die Ursache für seinen Stress sein könnte. Und falls er darauf kommt, dass es nicht an seiner falschen Einstellung, sondern an den gesellschaftlichen Verhältnissen liegt, sollte sich vielleicht, bevor er die nächste Weinbeere lutscht, einmal die Frage stellen, ob er sich nicht aus ­seiner Vereinzelung befreien sollte.

Er könnte sich mit anderen Gestressten zusammenschliessen und es wagen, diese Welt zu verändern, die ihn nicht nur stresst und krank macht, sondern zusätzlich so verblödet, dass er sich sein Heil in der kultischen ­Anbetung von Dörrobst erhofft.

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