Ich habe Gänsehaut. Es ist, als würde ich heimlich das Tagebuch des Nachbarn lesen. «Ich habe Angst, der Konzern ist rückständig, es herrscht totale Überwachung, die Chefs kanzeln Mitarbeiter ab», ist da mehrfach über eine Schweizer Vorzeigefirma zu lesen. Falls Sie einen neuen Job suchen, sollten Sie Bewertungen lesen. Als Anlegerin oder Journalist auch. Millennials, begehrte junge Talente, tun es schon längst.
Alles und alle werden heute bewertet. 85 Prozent der Konsumenten trauen Online-Bewertungen genauso wie persönlichen Bewertungen. Mitarbeiter stehen hingegen noch am Anfang. Aber auch ihre Meinungen verbreiten sich millionenfach und rasant online. Am liebsten bewerten Angestellte auf Plattformen wie Kununu, Indeed und Glassdoor. Glassdoor hat 33 Millionen Bewertungen von mehr als 700 Unternehmen in rund 200 Ländern.
Misstrauen gegenüber Personalabteilung
Und da ist diese neue App Blind. Sie hat die radikalste Vision. Hier chatten Angestellte desselben Arbeitgebers anonym miteinander, eine Art zweites Intranet auf einer App. Gesprochen wird über alles. Auch darüber, welche Firmen für Frauen die besten sind. Sexuelle Belästigungen bei Uber oder die miesen Arbeitsbedingungen bei Amazon kamen da zur Sprache.
Jobsuchende und Mitarbeiter haben heute mehr Informationen als je zuvor. Es ist die Zeit der Transparenz. Die neuen Portale sind nämlich nur so erfolgreich, weil Menschen der Personalabteilung misstrauen. 70 Prozent der Angestellten genau genommen. Die weit verbreitete Meinung: Die Personalabteilung arbeite nicht für das Personal, sondern für die Chefs. Also umgeht man sie über Portale.
Digitale Gewerkschaft
Auf Kununu schneiden unter den grössten 20 Unternehmen Swatch, Novartis und die CS am schlechtesten ab. Richtig vernichtend sind die Urteile über Swatch. Als Bewerberin würde das nicht spurlos an mir vorbeigehen, auch nicht als Aktionärin. Adecco erhält ebenfalls schlechte Noten. Doch anders als die andern nimmt der Spezialist fürs Personal die Bewertungen sehr ernst, reagiert auf Einträge und wirkt damit offen und kritikfähig.
Bewertungsportale sind zu einer neuen Art digitaler Gewerkschaft geworden. Im Scheinwerfer der Weltöffentlichkeit müssen sich Firmen verbessern. Genauso wie aufgeklärte Konsumenten Hersteller gezwungen haben, gesündere Produkte anzubieten, werden Mitarbeiter Firmen zwingen, eine gesündere Kultur zu schaffen. Macht mit, bewertet.
Patrizia Laeri (40) ist Wirtschaftsredaktorin und -moderatorin von «SRF Börse» und «Eco» sowie Beirätin im Institute for Digital Business der HWZ. Sie schreibt jeden zweiten Mittwoch im BLICK.