3716 Schritte liegen zwischen dem Lesen des Buchs und dem Schreiben darüber in dieser Kolumne. 3716 Schritte, auf denen ich meine Gedanken geordnet habe, denn wie schrieb schon der im Buch zitierte Henry David Thoreau (1817–1862): «Sobald sich meine Beine bewegen, beginnen meine Gedanken zu fliessen, als hätte ich dem Strom am unteren Ende freien Lauf gelassen, woraufhin sich neue Quellen in das obere Ende ergiessen.»
Für Buchautor Shane O'Mara, Professor für Experimentelle Neurowissenschaft am Trinity College der Universität Dublin (Irland), ist Gehen der beste Weg, um einen klaren Kopf zu bekommen. Neben dem kreativen Nutzen beleuchtet der leidenschaftliche Spaziergänger O'Mara in «Das Glück des Gehens» den evolutionären, medizinischen und sozialen Aspekt der menschlichen Fortbewegung.
«Was macht uns zu Menschen?», lautet – nicht ohne Hintergedanke – der erste Satz in dieser Hymne auf das Gehen. Gewiss, Sprache unterscheidet uns von Tieren, die Fähigkeit, Nahrung zu kochen, und die Neigung, uns jahrelang dem Nachwuchs zu widmen. Aber wieso können wir das alles? «Zweibeiniges Gehen sorgte dafür, dass wir die Hände frei hatten», schreibt O'Mara, «das heisst, wir wurden in die Lage versetzt, Nahrung, Waffen und Kinder zu tragen.»
Wir können vieles besser dank des aufrechten Gangs, und wir könnens viel länger, wenn wir ihn praktizieren: «Sie werden nicht alt, bis Sie aufhören zu gehen», so O'Mara, «und Sie hören nicht einfach auf zu gehen, weil Sie alt werden.» Deshalb will er täglich mindestens die Zahl 9500 auf seiner Schrittzähler-App lesen können. 4961 Schritte sind der Durchschnittswert einer länderübergreifenden Studie der kalifornischen Stanford University, an der über eine halbe Million Menschen aus gut 50 Ländern teilnahmen. Und eine Erkenntnis ist: je aktiver, umso attraktiver, sprich: weniger dick.
Die Gehgeschwindigkeit in 31 Ländern ist der Untersuchungsgegenstand einer weiteren im Buch aufgeführten Studie von 1999. Fazit: «In der Schweiz wurde das schnellste Lebenstempo gemessen, dicht gefolgt von Irland (damals mitten in einem enormen, anderthalb Jahrzehnte währenden Wirtschaftsboom), danach kamen Deutschland und Japan.» Die Formulierung lässt es schon erahnen: Für O'Mara besteht ein Zusammenhang zwischen Gehgeschwindigkeit und wirtschaftlichem Erfolg.
Der ein bisschen zweifelhafte Rückschluss: Dort, wo die Armut herrscht, schlendert man; dort, wo es etwas zu holen gibt, eilt man. «Wir müssen nicht nur schnell zu dem neuen netten Restaurant gehen, wir müssen auch schneller dort hingehen als andere Leute.» Abgesehen von dieser gewagten These ist das Buch eine anregende Lektüre, die einem Beine macht und beim nächsten City-Trip das Taxi vorbeifahren lässt, denn: «Durch eine Stadt zu gehen, ist die beste Art, sie kennenzulernen.»
Shane O’Mara, «Das Glück des Gehens – was die Wissenschaft darüber weiss und warum es uns so guttut», Rowohlt