Vontobel-Präsident Herbert Scheidt im Interview
«Ich unterschreibe, dass der Finanzplatz heute sauber ist»

Herbert Scheidt (70) steht seit 20 Jahren an der Spitze von Vontobel und ist somit der am längsten amtierende Bankenchef der Schweiz. Nächste Woche ist Schluss. Er schaut zurück auf die Irrungen und Wirrungen des Bankenplatzes.
Publiziert: 02.04.2022 um 15:47 Uhr
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Aktualisiert: 02.04.2022 um 15:49 Uhr
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Herbert Scheidt (70) ist seit 2002 an der Spitze der Bank Vontobel, zuerst als CEO, seit 2011 als deren Präsident.
Foto: Philippe Rossier
Christian Dorer (Interview) und Philippe Rossier (Fotos)

Saharastaub hat in diesen Tagen die Stadt Zürich überzogen. Deshalb muss der Fotograf vor dem Shooting auf der Terrasse des Vontobel-Hauptsitzes das Geländer reinigen. Scheidt erkennt eine Analogie zur Lage unserer Zeit und zur Situation der Schweiz: «Die Sahara ist nicht gerade um die Ecke. Der Sand zeigt, wie verflochten die Welt geworden ist. Niemand kann sich mehr ins Réduit zurückziehen.»

SEINE KARRIERE

SonntagsBlick: Herr Scheidt, Sie sind der dienstälteste Bankenchef der Schweiz. Was hat Sie einst in diese Branche geführt?
Herbert Scheidt:
Der Zufall! Direkt nach dem Studium arbeitete ich bei der Welternährungsorganisation in Rom. Als ich nach Deutschland zurückkehrte, wollte ich zu einem renommierten, internationalen Unternehmen – und landete bei der Deutschen Bank.

Und der Reiz des Geldes?
Das Geld als solches hat für mich ebenso wenig eine Rolle gespielt wie der Verdienst. Es war und ist die Rolle der Banken für eine gesunde Volkswirtschaft.

Wie macht man in der Bankenwelt Karriere?
Wenn Glück auf Gelegenheit trifft! Zudem braucht es sehr viel Arbeit, Engagement, Herzblut und ein gutes Verständnis des Finanzsektors, seiner Risiken – und wie man sie vermeidet.

Sie standen 20 Jahre an der Spitze der Bank Vontobel, zuerst als CEO, dann als Präsident. Wie konnten Sie sich so lange halten?
Mit Leidenschaft, aber auch Leidensbereitschaft. Am Ende sieht eine Karriere immer schön und steil aus. In Wirklichkeit gibt es viele Stolpersteine, und da braucht es Stehvermögen. Man muss seiner Linie, seinem inneren Kompass treu bleiben. Ich habe mich immer so eingesetzt, als wäre es auch meine Firma.

DAS ENDE DES BANKGEHEIMNISSES

Sie haben das Ende des Bankgeheimnisses erlebt. Wieso geht es den Banken trotzdem gut, wo sie es doch zuvor stets als überlebenswichtig bezeichnet hatten?
Es ist ein Bankkundengeheimnis …

Das ist eine PR-Floskel.
Nein, es heisst offiziell Bankkundengeheimnis. Bei seiner Einführung in den 1930er-Jahren hatte es eine Berechtigung. Es war für Menschen gemacht, die in unsicheren Regimen lebten und ihr Geld in einem sicheren Hafen anlegen wollten. Damals ging es nicht ums Steuersparen.

Dazu ist es aber verkommen.
Ja, ab den 1960er-Jahren. Das war eine unglückliche Entwicklung. Die Schweiz hat zu lange an ihr Recht geglaubt und nicht akzeptiert, was die internationale Gemeinschaft als rechtens empfand und was nicht.

Wieso haben die Banken freudig mitgemacht?
Der frühere Nationalbankdirektor Philipp Hildebrand hat das mal richtig gesagt: Nicht nur die Banken haben mitgemacht, sondern alle, die profitiert haben – die Juweliere an der Bahnhofstrasse, die Hotels, die Bevölkerung und die Politik haben mit grosser Freude und Überzeugung um das goldene Kalb getanzt. In der Schweiz begreifen wir manchmal zu langsam, was in der Welt passiert. Wir haben zu spät reagiert.

Wieso geht es jetzt auch ohne?
Natürlich wurden auch Gelder abgezogen. Einige Banken haben unser Land verlassen. Die Schweiz hat sich aber auf ihre Stärken zurückbesonnen. Ich kann diese am Beispiel Vontobel erklären: Wir haben eine enorm hohe Investment-Expertise, wir sind in der Welt beliebt als gute, vertrauensvolle Anlageprofis, wir bieten ausgezeichneten Service, und wir arbeiten in einem politisch stabilen Umfeld. Der Schweizer Franken ist sehr stark, es gibt hier renommierte Universitäten sowie ein Netzwerk von Anwälten, Notaren und Treuhändern.

Ist der Finanzplatz heute sauber?
Ich würde unterschreiben, dass der Finanzplatz heute sauber ist, auch wenn sich Fehlverhalten von einzelnen Mitarbeitenden nie vermeiden lässt.

DIE EXPLOSION DER TOP-SALÄRE

Warum sind die Boni der Bankenchefs ab den 2000er-Jahren derart gestiegen?
Damals hat die Globalisierung so richtig an Schub gewonnen. Mit ihr kamen amerikanische Gehälter nach Europa. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten liegen sie hier aber noch immer tiefer.

«Der Markt» muss immer als Argument herhalten. Können Sie mir einen einzigen Schweizer CEO nennen, der von einer US-Bank abgeworben wurde?
Es geht nicht nur um die CEOs. Als Teil der Globalisierung kamen die internationalen Banken in die Schweiz, haben gute Mitarbeiter gesucht und sie bei den Schweizer Instituten gefunden. Die mussten sie mit höheren Löhnen abwerben, was einen Kreislauf in Bewegung gesetzt hat.

Die Globalisierung trifft alle Branchen. Warum zahlen Banken mehr als die anderen?
Die Pharma- und Technologiebranche zahlen heute oft mehr. Die Margen in diesen Bereichen liegen um ein Vielfaches höher als in der verarbeitenden Industrie. Wo höhere Margen verdient werden, wird auch besser bezahlt. Das ist in der Pharmabranche ähnlich.

Banker haben den ganzen Tag mit Geld zu tun. Sind sie deshalb stärker geldgetrieben?
Für Bankangestellte ist das Geld das Produkt, mit dem sie arbeiten, wie für den Bäcker das Brot. Sie sind vermutlich tatsächlich geldaffiner. Trotzdem ist Geld bei den meisten nicht der entscheidende Faktor – ausser vielleicht bei einem Investmentbanker alten Stils, der gute Deals machen will und sich auch persönlich daran misst, wie viel er verdient.

Wie stark beschädigt die grosse Lohnschere unsere Gesellschaft?
Grosser Unmut kommt vor allem auf, wenn die Höhe der Vergütung nicht in einem Verhältnis zum Erfolg steht. Dafür habe ich grosses Verständnis. Die Minder-Initiative hat hier viel bewirkt. Seither herrscht Transparenz, wodurch sich die Verwaltungsräte sehr intensiv damit auseinandersetzen, ein faires und sinnvolles System zu finden.

DIE FINANZKRISE VON 2008

Wie nah waren wir damals am Systemkollaps?
Sehr nah! Es gab Tage, an denen die Märkte praktisch stillstanden. Die Banken misstrauten einander. Das war hochgradig gefährlich. Wäre die Geldversorgung zum Erliegen gekommen, so wäre das gesamte Wirtschaftssystem zusammengebrochen.

Wer hat das verursacht?
Die Krise ist aus dem Zusammenspiel von wirtschaftlichen und politischen Ereignissen entstanden. Es war der Wille der US-Regierung, Bürger zu Hauseigentümern zu machen. Sehr viele Kredite wurden vergeben, leider nicht immer mit bester Qualität. Diese Kredite wurden zu Wertpapieren verwandelt und liessen sich so an den internationalen Finanzmärkten verkaufen. Die Risiken aus den amerikanischen Hypotheken verstreuten sich so in der ganzen Welt.

Heute klingt das alles logisch. Wieso hat es niemand kommen sehen?
Vielleicht wäre es nicht so weit gekommen, wenn der Staat Lehman Brothers gerettet hätte. Aber man wollte ein Exempel statuieren und zeigen, dass auch ein Finanzinstitut pleitegehen kann. Kaum jemand hat zu diesem Zeitpunkt verstanden, wie breit verteilt die risikoreichen Papiere waren. Wir unterschätzen die Interdependenz von Ereignissen. Die Ukrainekrise ist ein ähnliches Phänomen: Sie schafft das Risiko einer Hungersnot in grossen Teilen Afrikas, weil Weizen knapp und teuer wird.

Sie erwähnten die US-Regierung, die Hauseigentum fördern wollte. Was Sie nicht erwähnten: dass Banken viel zu hohe Risiken eingegangen sind.
Die Banken haben dies nicht als Risiko begriffen, da sie sich blind an den Rating-Agenturen orientierten. Diese haben fälschlicherweise die verbrieften Hypothekenkredite mit Triple A bewertet. Die Banken meinten, sie hätten beste Qualität von Wertpapieren in ihren Büchern. Das war ein enormes Versagen der Rating-Agenturen.

Sie waschen die Banken allen Ernstes rein?
Nein, ich wasche die Banken nicht rein. Diejenigen, die verbrieft haben, tragen Mitverantwortung, weil sie die Hypotheken genauer hätten prüfen müssen. Die kleineren Banken, die die Papiere gekauft und sich auf die Ratings verlassen haben, trifft weniger Schuld.

Die Regulierung wurden massiv verschärft, doch es passiert nie zweimal dasselbe. Was ist die nächste grosse Gefahr?
Das Bankensystem ist heute unendlich viel stabiler und sicherer als 2008. Ein höheres Risiko sehe ich in passiven Anlageprodukten. Da sind unendliche Geldmengen indexbasiert investiert. Wenn es zu einem leichten Crash kommt, werden automatisch enorme Volumina auf den Markt geworfen und lösen eine Abwärtsspirale aus. Dann gibt es keinen Boden mehr.

Wie für kurze Zeit zu Beginn der Corona-Krise?
Ein Grossteil der Bevölkerung hat das gar nicht realisiert: Das war ein Crash mit unglaublicher Geschwindigkeit. Innerhalb von wenigen Tagen fiel der MSCI World, ein Aktienindex, der über 1600 Aktien aus 23 Industrieländern abbildet, um über 30 Prozent. Dann sind die Zentralbanken eingeschritten, womit wir beim nächsten Phänomen sind: Deren Rolle hat sich zur letzten Instanz gewandelt, die Kredite vergibt, um einen Crash an der Börse und damit der Wirtschaft zu verhindern, auch wenn das nicht ihre Aufgabe wäre.

DIE SKANDALE AUF DEM BANKENPLATZ

Weshalb gibt es in Ihrer Branche so viele Skandale?
Skandale gibt es überall dort, wo Menschen sich einen persönlichen Vorteil verschaffen können. Das ist nicht nur im Bankensektor so.

Die Credit Suisse hatte in dichter Folge Überwachungsskandal, Milliardenverluste, Quarantäneflucht, Datenleak. Was ist da los?
Im Wesentlichen waren es persönliche Fehlverhalten, keine systemischen Fehler. Ich rate, zur Normalität zurückzukehren und zu verstehen, was falsch gelaufen ist. Fehler muss jedes Institut für sich selber aufarbeiten.

Raiffeisen hatte Pierin Vincenz, der waltete, wie er wollte. Wie kann so was passieren?
Das ist mir auch ein Rätsel. Er war bei uns im Verwaltungsrat. Wir haben uns sehr früh von ihm getrennt. Wie der Prozess ausgeht, weiss ich nicht. Aber klar ist, es muss zur Rechenschaft gezogen werden, wer unrechtmässig handelt. Alle Schweizerinnen und Schweiz sollen sehen, dass Unrecht bestraft wird.

Wie stark schaden solche Fälle dem Ansehen Ihrer Branche?
Wenn Fehler geahndet, bestraft und daraus gelernt wird, dann vergeben Herr und Frau Schweizer auch.

Wie haben Sie es geschafft, 20 Jahre lang skandalfrei zu bleiben?
Der wichtigste Grundsatz lautet: Wir tun nur das, was wir wirklich verstehen. Wenn uns ein Geschäft nicht behagt, dann machen wir es nicht. Alle Mitarbeitenden von Vontobel haben einen enormen Beitrag dazu geleistet, die Risiken tief zu halten. Das ist eine Kultur, die ich zusammen mit unserem jetzigen CEO Zeno Staub seit 2002 intensiv pflege. Eine solche Kultur braucht es in allen Finanzinstituten! Aber natürlich passieren auch bei uns Fehler, ansonsten wären wir keine Menschen.

EIN SATZ ÜBER DIE BANKENCHEFS DER VERGANGENEN 20 JAHRE

Marcel Ospel:
«Er hat vieles gut gemacht. Am Ende hat er die falschen Dinge getan und dafür einen hohen Preis bezahlt.»

Oswald Grübel:
«Er hat Hervorragendes geleistet und ist jetzt im verdienten Ruhestand.»

Pierin Vincenz:
«Ohne Worte.»

Sergio Ermotti:
«Er hat zusammen mit Axel Weber die UBS wieder auf Vordermann gebracht und Tolles geleistet.»

Hans J. Bär:
«Er war sehr vorausschauend mit seiner Kritik am Bankkundengeheimnis und hat dafür viel Kritik einstecken müssen.»

Tidjane Thiam:
«Man muss sich auf das Land und die Menschen einlassen. Nur was man versteht, kann man weiterbringen.»

Hans Vontobel:
«Er war einer der langjährigsten und bedeutendsten Persönlichkeiten am Finanzplatz mit einer enormen Fähigkeit vorauszudenken. Er hat Werte gelebt, die wirklich beispielhaft sind.»

Der dienstälteste Bankenchef

Herbert Scheidt (70) arbeitete nach seinem Wirtschaftsstudium zwanzig Jahre lang für die Deutsche Bank, unter anderem in Mailand, New York und Genf. Seit 2002 steht er an der Spitze der Bank Vontobel, zuerst als CEO, seit 2011 als deren Präsident. An der GV am 6. April tritt er zurück. Von 2016 bis 2021 war der deutsch-schweizerische Doppelbürger Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung. Scheidt ist verheiratet und Vater von Zwillingen.

Philippe Rossier

Herbert Scheidt (70) arbeitete nach seinem Wirtschaftsstudium zwanzig Jahre lang für die Deutsche Bank, unter anderem in Mailand, New York und Genf. Seit 2002 steht er an der Spitze der Bank Vontobel, zuerst als CEO, seit 2011 als deren Präsident. An der GV am 6. April tritt er zurück. Von 2016 bis 2021 war der deutsch-schweizerische Doppelbürger Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung. Scheidt ist verheiratet und Vater von Zwillingen.


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