Mahnmal für NS-Opfer in der Schweiz
Erinnern, aber richtig!

Hunderte Schweizer starben in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. An sie zu erinnern, heisst auch, sich mit einem dunklen Schweizer Kapitel auseinanderzusetzen – und daraus für die Zukunft zu lernen. Sonst kann man es bleiben lassen.
Publiziert: 07.03.2021 um 10:46 Uhr
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Aktualisiert: 19.03.2021 um 17:05 Uhr
Benno Tuchschmid, Leiter SonntagsBlick Magazin.
Foto: Shane Wilkinson
Benno Tuchschmid

Wenn Sie sich fragen, wieso es in der Schweiz ein Mahnmal für Opfer des Nationalsozialismus braucht, dann nehmen Sie sich kurz Zeit für die Geschichte von Anna Böhringer.

Am 22. September 1939 wiesen die Basler Behörden die siebenfache Mutter wegen «liederlichen Lebenswandels» nach Deutschland aus. Das Verschulden der gebürtigen Schweizerin: uneheliche Kinder, Prostitution, ein Leben am Rande der Gesellschaft. Möglich war die Ausschaffung, weil Anna Böhringer durch die Heirat mit einem Deutschen ihr Schweizer Bürgerrecht verloren hatte. Als die Nationalsozialisten sie kurz nach ihrer Ausschaffung in Lörrach (D) verhafteten und ins KZ Ravensbrück deportierten, flehten die Verwandten Anna Böhringers die Schweizer Behörden an, sie wieder einzubürgern. Es wäre ihre einzige Überlebenschance gewesen. In einer internen Stellungnahme schrieb die Basler Stadtregierung dazu: «Wenn die Böhringer nun ereilt, was sie schon längst verdient hat, hat sie dies nur ihrem unmoralischen Lebenswandel zuzuschreiben. Leute dieser Sorte haben auch in der Schweiz Zwangsmassnahmen zu gewärtigen.»

Am 20. Februar 1945 ermordeten die Nationalsozialisten Anna Böhringer (53) im KZ Ravensbrück.

Ein Mahnmal für Opfer der NS-Verfolgung braucht es, damit wir uns an Schicksale wie jenes von Anna Böhringer erinnern. Und nicht vergessen, wer sie den Nationalsozialisten ans Messer geliefert hatte: die Schweizer Behörden.

Mindestens 408 Schweizer Bürgerinnen und Bürger wurden während des Zweiten Weltkriegs in Konzentrationslager deportiert. Dazu kommen mindestens 334 Männer, Frauen und Jugendliche, die in der Schweiz geboren wurden, hier aufwuchsen, oft Mundart sprachen, aber die Schweizer Staatsbürgerschaft nicht besassen. Von diesen insgesamt 742 Menschen überlebten 468 die Konzentrationslager nicht.

Nicht in allen Fällen verhielt sich die Schweiz so schändlich wie bei Anna Böhringer – aber in vielen. Für die Schweizer Behörden zählten damals Juden, Linke, Homosexuelle, Widerstandskämpfer, Behinderte oder Asoziale als Bürger zweiter Klasse, für die man sich nicht einsetzte. Bei denen man froh war, sie los zu sein. Es waren bezeichnenderweise die gleichen Minderheiten, die auch die Nazis zu vernichten suchten.

Erinnerung ist wichtig, aber ein Mahnmal ist nicht mehr als kalter Stein, wenn wir uns als Gesellschaft nicht ernsthaft mit dem Unrecht der Vergangenheit auseinandersetzen und Lehren für die Zukunft daraus ziehen.

Bis vor kurzem zeigte kein Land in Westeuropa ein so grosses Desinteresse gegenüber der eigenen NS-Opfer wie die Schweiz. Sie gingen schlicht vergessen.

Seit letztem Jahr ist einiges in Bewegung geraten. Mit Simonetta Sommaruga anerkannte zum ersten Mal eine Bundespräsidentin das Schicksal der verfolgten Schweizerinnen und Schweizer. In Zürich gründeten engagierte Bürgerinnen und Bürger einen Verein, der mit Stolpersteinen vor den ehemaligen Wohnorten der NS-Opfer gedenkt. Sieben wurden bisher verlegt, in Basel, Bern und Winterthur sollen weitere dazukommen. Engagierte Lehrer behandeln das Thema in Schulen, Studierende schreiben Masterarbeiten über Schweizer Opfer.

Das Fundament für ein nationales Mahnmal mit einem Dokumentationszentrum ist gelegt. Ob es etwas bewirken wird, liegt nun in unserer Hand. Wir sind es Anna Böhringer und allen anderen Opfern schuldig.

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