Lukas Bärfuss zum Problem der Linken mit dem EU-Rahmenvertrag
«Die gewerkschaftliche Linke macht sich zur Gehilfin der Rechten»

Die Schweizer Linke muss sich laut Autor Lukas Bärfuss entscheiden, ob sie für Offenheit steht oder zum zweiten Mal in ihrer Geschichte in der Europafrage mit der SVP paktieren will.
Publiziert: 10.03.2019 um 17:03 Uhr
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Aktualisiert: 10.03.2019 um 17:18 Uhr
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Wegen des EU-Rahmenvertrags ist die Linke in der Schweiz tief gespalten.
Foto: imago
Lukas Bärfuss

Die Geschichte bewegt sich nicht im Ochsengang, nicht in einem gleichmässigen Trott. Sie gleicht eher den wilden Sprüngen eines Pferdes, das nach ­Tagen im Stall wieder auf die Weide gelassen wird. Seine Volten sind unvorhersehbar: Ob es sich aufbäumt, nach hinten oder nach vorne ausschlägt, ob es einen Satz nach rechts oder nach links macht, das bleibt ganz unberechenbar.

Wer aber lange genug an der Koppel gestanden hat, der wird zwar genauso überrascht von der nächsten Bewegung, doch erkennt er, dass sich die einzelnen Ausschläge wiederholen. Die Figuren, so unabsehbar ihre Abfolge ist, ähneln sich.

Eine solche Volte, die man immer und immer wieder sieht, ist das Verhalten der Linken, wenn es um Europa geht. Vor vielen Jahren, in einem ­fernen, unglückseligen Herbst sollte es für die nächsten Jahrzehnte über das Schicksal der Schweiz entscheiden.
Am 6. Dezember 1992 lehnte die hiesige Stimmbevölkerung den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum mit 50,3 Prozent Nein-Stimmen ab.

Das Ergebnis war hauchdünn: Für das Volksmehr fehlten 24 000 Stimmen, und obwohl das Ständemehr auf den ersten Blick deutlich ausfiel, lediglich sechs Kantone und zwei Halbkantone für die Vorlage votierten, verhinderten auch hier bloss 63 000 Stimmen das doppelte Ja, nämlich jene in den Kantonen mit den knappsten Mehrheiten, und das waren Zürich, Bern, Zug, Solothurn und Aargau.

Die Linken spielten den Europafeinden in die Hände

Die Folgen sind bekannt. Die nationalistische Rechte bestimmte in folgenden Dekaden den politischen Diskurs. Befeuert von ihrem Triumph eilte sie von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Die liberale Mitte wurde aufgerieben, die Wirtschaft ging bis zum Abschluss der bilateralen Verträge im Krebsgang – und wer 
war schuld daran? Wer trägt die Verantwortung für das Nein in der EWR-Abstimmung?

Die Rechte machte ihre Sache ohne Frage vorzüglich: Sie verfügte über beinahe unbegrenzte finanzielle Mittel und mobilisierte ihre Anhängerschaft so stark wie nie zuvor.

Zu Hilfe kam ihr ein gespaltener Bundesrat. Flavio Cotti und Otto Stich machten keinen Hehl aus ihren Vorbehalten ­gegen den EWR. Die FDP, eigentlich pro-europäisch, lag immer noch weidwund, angeschossen vom Kopp-Rücktritt, dem Abstieg des Zürcher Freisinns und dem schlechten Ergebnis bei den Nationalratswahlen im Jahr zuvor.

Aber dies hätte nicht für ein Nein gereicht, wenn nicht ein Teil der Linken den rechten Europafeinden in die Hände gespielt hätte. Die Befürworter verschliefen den Abstimmungskampf, erst zwei Wochen vor dem 6. Dezember kam die Ja-Kampagne etwas in Gang. Viel zu spät – die brief­lichen Stimmen waren längst abgegeben.

Die entscheidenden Weichen waren indes schon in den Monaten zuvor gestellt worden. Am SP-Parteitag im Oktober in Genf wurde bloss ein «kritisches Ja» ausgegeben. Man wollte die Gräben in den ­eigenen Reihen nicht vertiefen, vor allem, weil die Gegner nicht irgendwelche Hinterbänkler waren, sondern die Stars der Sozialdemokratie.

Lukas Bärfuss

Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, ­einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein ­Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.

Der Schweizer Erfolgsautor Lukas Bärfuss.
Der Schweizer Erfolgsautor Lukas Bärfuss.
Philippe Rossier

Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, ­einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein ­Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.

Zuvorderst, Seit’ an Seit’ mit der nationalistischen Rechten, bekämpfte Andreas Gross den EWR, jener ­Nationalrat, der in der GSoA-Abstimmung drei Jahre zuvor sensationelle 35,6 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer hinter sich hatte vereinigen können.

Strahm legte Sprengsätze und Nebelpetarden

Gleich dahinter agierte Rudolf Strahm, der mit seinem Buch «Europa-Entscheid» die Bestseller-Listen anführte und eine landesweite Berühmtheit war, gegen das Vertragswerk. Bei der parlamentarischen Beratung im Nationalrat enthielt er sich der Stimme und rang sich erst bei der Beratung über die Euro-Lex-Gesetzgebung zu ­einem Ja durch. Aber er tat es contre cœur.

Noch wenige Tage vor dem 6. Dezember legte er Sprengsätze und Nebelpetarden. In einem langen Interview mit der «Schweizer Illustrierten» bekundete er grosses Verständnis für die Zweifler und bekannte, nicht zu jenen zu gehören, die Christoph Blocher verteufelten, denn schliesslich vertrete dieser keine grundsätzlich abstrusen ökonomischen Theorien – ganz im Gegenteil, wie Strahm hinzufügte.

Obwohl er schweren Herzens ein Ja ein­legen werde, fand Strahm vor allem ­Argumente gegen den EWR. Verlieren würden die wenig Gebildeten, die Frauen, die Umwelt, die wenig Mobilen – und es sollten dann genau diese Gruppen sein, die diese für die Zukunft der Schweiz entscheidende Abstimmung ins Nein kippen liessen.

Die Grünen waren in dieser Sache geschlossener als die Genossen – das ist das einzig Positive, was sich über diese Partei zu jenem Zeitpunkt sagen lässt. Für sie war der EWR ein ­kapitalistisches, von Männern dominiertes Monster, das man mit allen ­Mitteln bekämpfen musste. Und auch in den links-grünen Kreisen waren es die nationalen Schwergewichte, die sich für ein Nein starkmachten: Verena Diener, Rosmarie Bär, Jo Lang, Cécile Bühlmann.

Sie alle zählten wohl auf den Pragmatismus der Schweizerinnen und Schweizer und rechneten insgeheim mit einem Ja an der Urne. Sie meinten, sich ihre Opposition leisten zu können und zum Wohl ihrer eigenen Karrieren gegen das Wohl des Landes arbeiten zu können. Am Abend des 6. Dezember 1992 mussten sie ein böses Erwachen erleben.

Der SP-Vorstand begriff viel zu spät

Als einziges Land der Efta, der europäischen Freihandelszone, würde die Schweiz nicht dem EWR beitreten. Der SP-Parteivorstand begriff spät, zu spät. Nach einer lausigen Kampagne, dem lauwarmen, «kritischen» Ja, nannte der Parteivorstand in einer ersten Presseerklärung den Entscheid nun «eine Katastrophe» und «extrem schädlich» für die Schweiz.

In einer Umfrage forderte eine Mehrheit der Bevölkerung eine zweite Abstimmung, und manche der prominenten Nein-Sager versuchten, durch einen doppelten Salto ihre fatale Fehleinschätzung vergessen zu machen. Wie die Grünen setzte sich Andreas Gross gegen alle politischen Realitäten für einen sofortigen EU-Beitritt ein.

Dabei hatte er das Geschäft der Rechten längst erledigt. Von nun segelten andere Kräfte am politischen Wind. Es folgten die Jahre der Beziehungsambivalenz zwischen der EU und der Schweiz, ein ewiges Geschacher, ein Lavieren, das einen Grossteil der politische Energie frass und verhinderte, dass sich das Land um ­andere, zukunftsträchtige, Themen kümmern konnte.

Kommt einem diese Geschichte bekannt vor? Aus Grossbritannien vielleicht?

Dort stimmte der heutige Chef der Labour Party, Jeremy Corbyn, schon 1975 gegen den Beitritt zur ­Europäischen Union. 2008 stellte er sich gegen die Unterzeichnung der Verträge von Lissabon, und drei Jahre später unterstützte er sogar eine Initiative von konservativer Seite, über den Brexit ein Referendum abzuhalten.

Und noch 2015, während der Griechenland-Krise, beschwor er die bekannten Ängste vor einem diabolischen Brüssel mit seinen notorischen anti­semitischen ­Illusionen: Es gebe keine Zukunft für ein wucherisches Europa, das die kleinen Nationen in eine Schuldknechtschaft zwinge.

Das Kreuz der Linken mit Europa

Und auch ihm ging es mehr um die eigene politische Profilierung als um das Wohlergehen des Landes. Und wie an jenem fernen Dezemberabend in der Schweiz rieb man sich auch in Grossbritannien am Tag nach dem 23. Juni 2016 ungläubig die Augen. Das Resultat ähnlich knapp wie beim EWR, das Chaos angerichtet, das Land gespalten, die Extremisten triumphierten und lachten sich über die linken Helfershelfer ins Fäustchen.

Das Kreuz der Linken mit Europa ist leider weder eine englische noch eine schweizerische Eigenart. In Frankreich polemisiert Jean-Luc ­Mélenchon mit seinem Bündnis «La France insoumise» ganz auf der ­Linie der extremen Rechten und trifft sich in seinem nationalistischen und anti-deutschen Gehabe mit Marine Le Pen vom Front National.

Er findet viel Unterstützung in intellektuellen Kreisen, bei Schriftstellern wie Didier Eribon oder Edouard Louis, die von ­einer Revolution träumen, die Regierung stürzen wollen, Gewalt als politisches Mittel nicht grundsätzlich ablehnen und gegen Brüssel opponieren. Es ist zu befürchten, dass auch sie eines Tages ein böses Erwachen erleben werden.

Die EU hat dem Kontinent Frieden und Wohlstand beschert. Sie ist nicht perfekt. Wie jedes politische Projekt muss man sie entwickeln, demokratischer und sozialer gestalten. Ein Teil der Sozialdemokraten will das nicht einsehen. Hierzulande macht sich die gewerkschaftliche Linke wieder einmal zur Gehilfin der Rechten.

Die weiss nämlich mittlerweile, dass sich das Pferdchen auf der Weide irgendwann erschöpft hat mit seinen Kapriolen. Dann mag man ihm die Zügel umlegen, und man kann es mühelos ins Geschirr legen, bevor es müde und brav den rechten Karren zieht und nicht mehr zu unterscheiden ist von einem Ochsen.

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