Lukas Bärfuss über die fehlende Schweizer Streitkultur
Eine klare Position gefährdet die Wiederwahl

Der maue Wahlkampf hat System: Es gibt in der Schweiz nichts, dass die Chancen auf Wahlen mehr ­gefährdet, als eine klare Position. Denn das ­bedeutet Streit und Unruhe.
Publiziert: 13.10.2019 um 15:11 Uhr
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Schriftsteller Lukas Bärfuss macht sich Gedanken über den lauen Wahlkampf in der Schweiz
Foto: Philippe Rossier
Lukas Bärfuss

Es gibt in der politischen ­Wissenschaft den Begriff der asymmetrischen Demobilisierung. Er bezeichnet eine Taktik im Wahlkampf. Die regierende Partei vermeidet jedes kontroverse Thema und versucht damit, die Anhänger des politischen Gegners von einem Urnengang abzuhalten. In der Schweiz praktiziert man die Methode der symmetrischen Demobilisierung. Alles, was auch nur entfernt an politischen Streit erinnert, wird konsequent vermieden. Nicht nur die Anhänger des Gegners, nein, die gesamte politische Öffentlichkeit wird narkotisiert. Aus Staatsräson ist es am besten, wenn die Stimmbürgerinnen zu Hause bleiben. Gemäss den Umfragen werden sich weit über die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer am 20. Oktober der Stimme entsagen. Aber das macht nichts. Das ist sogar gut so. Für Aussenstehende wirkt das häufig seltsam. Die innere Logik ist nur schwer zu verstehen. Mit der hiesigen Politik verhält es sich allerdings wie mit der Nationalspeise, dem Fondue: Um es verdauen zu können, muss man von früh an daran gewöhnt werden.

Die Politik ist nur ein Störfaktor

Wir Schweizer und Schweizerinnen mögen keine Unruhe. Und ­deshalb ist uns auch die Politik suspekt. Politik will verändern, und das schafft Unruhe. Hier aber soll die Zukunft aussehen wie die Vergangenheit. Hier soll sich nur das Notwendige ­ändern, und das bitte nur ganz, ganz langsam.

Die jüngsten Wahlprognosen zehn Tage vor dem Urnengang und die ­Reaktionen darauf dokumentieren das eindrücklich. Die grösste Verschiebung in der Wählergunst einer Partei beträgt gemäss Voraussage 3,6 Prozentpunkte – und dies kommt hierzulande schon einem politischen Erdbeben gleich. ­Alleine der Gedanke, dass die FDP möglicherweise einen Sitz im Bundesrat an die Grünen verlieren könnte, verbreitet den Odem von Revolution und Staatsstreich. Und das will man nicht. Warum nicht? Weil es dem ­Geschäft schadet. Die Wirtschaft will, dass alles so bleibt, wie es ist, denn so, wie es ist, ist es annähernd perfekt.

Politik ist dabei nur ein Störfaktor. Die Wirklichkeit beweist es. Hat man denn nicht gesehen, wohin es führt, wenn man die Politik über die Zukunft bestimmen lässt? Was ist da draussen in der Welt seit dem letzten eidgenössischen ­Wahlgang passiert?

Lukas Bärfuss

Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, ­einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein ­Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.

Der Schweizer Erfolgsautor Lukas Bärfuss.
Der Schweizer Erfolgsautor Lukas Bärfuss.
Philippe Rossier

Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, ­einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein ­Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.

Im Oktober 2015 hiess der britische Premierminister ­David Cameron. Dieser konservative Pro-Europäer hatte im Mai desselben Jahres für seine Partei einen überwältigenden Wahlsieg errungen. Mit einer absoluten Mehrheit war er in die Downing Street Nr. 10 eingezogen. Camerons Macht war unbestritten. Ein Referendum über den Austritt Grossbritan­niens aus der EU? Dafür gab es noch nicht einmal einen Termin. Es ist nur schwer zu glauben, aber das Wort ­Brexit war den allermeisten Menschen völlig unbekannt. Im Weissen Haus an der Pennsylvania Avenue in Washington residierte in jenem weit entfernten Indian Summer ein Mann namens Barack Obama. Das Ende seiner zweiten Amtszeit lag noch über ein Jahr in der Zukunft, und als seine wahrscheinlichste Nachfolgerin wurde Hillary Clinton gehandelt. Für sie sprachen vor allem zwei Umstände. Erstens war die Zeit reif für eine Frau als Präsidentin, und zweitens gab es unter den Republikanern, diesem zerstrittenen Haufen, niemanden, der Frau Clinton gefährlich werden konnte. Um den desolaten Zustand der Grand Old Party zu begreifen, musste man sich nur eine der Fernsehdebatten ansehen. Dort dominierte ein Rumpelstilzchen, ein Immobilienmagnat und Reality-TV-Star aus New York, dessen Manieren so seltsam waren wie seine Frisur. Völlig ­aus­geschlossen, dass die Amerikaner diesen Donald Trump ­jemals zum Präsidenten wählen würden, aber wenigstens sorgte
er im öden Politikbetrieb für etwas ­Unterhaltung.

Flüchtlingskrise statt Klimakatastrophe 

In Paris war das Bataclan bloss ein Konzertlokal unter vielen, und im Élysée-Palast sass François Hollande als Präsident der französischen Republik. Er gehörte einer Partei an, die man vier Jahre später nur noch vom Hörensagen kennt, den Sozialisten nämlich, und die, man glaubt
es kaum, damals auch in Italien die Regierung stellten, angeführt von einem jungen Hoffnungsträger, dem eine grosse Zukunft voraus­gesagt wurde und fast ganz und gar vergessen ist, Matteo Renzi nämlich.

Erledigt schien hingegen Angela Merkel. Es schien äusserst fraglich, ob sie sich über das Jahresende im Amt würde halten können. Denn so, wie im Jahr 2019 die Klimakatastrophe die Schlagzeilen beherrschte, dominierte vor vier Jahren die Flüchtlingskrise die mediale Berichterstattung. Und wie heute konnte man sich auch damals nicht vorstellen, wie sich das eines Tages wieder ändern könnte. In eben dieser Flüchtlingskrise hatte Frau Merkel ihren letzten politischen Kredit mit der Öffnung der Grenzen und der Losung «Wir schaffen das» ­aufgebraucht. Sie war erledigt. Das Ende ­ihrer Macht war unwiderruflich ­gekommen, so sahen das alle Leit­medien, von der «Financial Times» in London bis zum «Spiegel» in Hamburg.

Es wirkt deshalb frivol und umstürzlerisch, wenn eine linke Partei Werbung macht mit dem Slogan: Unruhe bewahren! Als gäbe es in der Welt nicht genug davon! Nein, wir wollen sehen, dass wir gelassen auf unserem bewährten Weg bleiben. Und deshalb sind zwar Wahlen, weil Wahlen nun einmal – man muss es beinahe sagen – leider zu einer Demokratie gehören. Aber deswegen ist ja niemand verpflichtet, Wahlkampf zu betreiben, oder ­jedenfalls das, was man in anderen Ländern unter Wahlkampf versteht.

Klare Positionen gefährden die Wahlchancen

Man begreift darunter üblicher­weise die möglichst vorteilhafte Darstellung des eigenen, verbunden mit der gleichzeitigen Verteufelung des gegnerischen politischen Programms. Davon gibt es wenig bis nichts. In der Schweiz benötigen die Kandidierenden überhaupt kein Wahlprogramm. Mehr noch: Es gibt nichts, das ihre Chancen auf Erfolg mehr gefährdet, als eine ­klare Position.

Der Wahlkampf besteht hier deshalb in der reizvollen Aufgabe, einerseits sein Gesicht und seinen ­Namen in die Öffentlichkeit zu bringen, und gleichzeitig alles zu vermeiden, was ­diesem Namen und dem ­Gesicht ein politisches Profil verpasst. Der Wähler darf nicht wissen, wofür der ­Politiker steht.

So werden die beiden ­wichtigsten politischen Herausforderungen der nächsten Legislatur konsequent ignoriert. Dies nur zur Erinnerung: Weder für den Rahmenvertrag noch für die AHV ist eine Lösung in Sicht. Dem wichtigsten Sozialwerk der Schweiz fehlen in den nächsten zehn Jahren ­ungefähr dreissig Milliarden Schweizer Franken, und niemand hat eine ­Ahnung, woher das Geld kommen soll. Die letzte Reform wurde 2017 vom Volk zurückgewiesen. Die Vorschläge, die der Bundesrat im Sommer vorgelegt hat, werden von sämtlichen politischen Parteien abgelehnt. Die Rechte will keine Finanzierung über die Mehrwertsteuer, die Linke keine Erhöhung des Frauenrenten­alters. Es wäre interessant zu erfahren, mit welchen ­Vorschlägen sich die Kandidierenden in dieser Frage positionieren – nach ­welchen Kriterien soll der Bürger sonst seine Wahl treffen? Der Sozialdemokratischen Partei gelingt es auf ihrer Wahlplattform tatsächlich, sowohl die Frage nach dem Verhältnis der Schweiz zur EU wie auch jene nach der Finanzierung der Altersvorsorge einfach nicht zu erwähnen. Nicht besser sieht es bei der FDP aus. Sie sieht ihre Aufgabe offenbar nur noch in der Standortförderung. Inno­vation heisst hier die Losung. In welche Richtung diese ­Erneuerung gehen soll? Das mag sich jeder selber denken.

Bedeutungsverlust der Legislative

Das eidgenössische Parlament scheint den Anspruch auf politische Gestaltung aufgegeben zu haben. Das Parlament hat kaum mehr etwas zu ­sagen. Die entscheidenden Mächte in der politischen Arena sind die Stimmbevölkerung und die EU-Behörden in Brüssel. Sie geben den Takt vor, und leider ist dieser ganz und gar unvorhersehbar. Als National- oder Ständerat ist es deshalb besser, sich nicht auf eine Position festzulegen. Das wäre nur hinderlich, wenn es darum geht, kreative Lösungen für unmögliche Aufgaben zu finden. So war der famose «Inländervorrang light» in der letzten Legislaturperiode die herausragende Leistung des eidgenössischen Parlaments. Ein politischer Taschenspielertrick, um das ungelöste staatspolitische Problem nicht eskalieren zu lassen.

Die Stille im Wahlkampf zeugt auch vom Bedeutungsverlust der Legislative in der Demokratie. In vielen Ländern kämpfen die Parlamente immerhin noch um ihren Anteil an der Macht. In der Schweiz scheint man sich mit der eigenen Marginalisierung abgefunden zu haben. Der Rekord an Kandidierenden ist kein Beweis für das Gegenteil. Ein Nationalratsmandat ist für die meisten bloss eine PR-Möglichkeit. Und dazu leichtes Geld. Man hat ja schliesslich keine Präsenzpflicht.

Streit ist in einer Demokratie ­notwendig. Wenn das Parlament nicht mehr dieser Ort ist, wird er sich an ­einer anderen Stelle artikulieren, auf der Strasse, ausserparlamentarisch, ungeordnet, unlegitimiert. Kein gutes Zeichen, keine gute Prognose für die nächste Legislatur, für die nächsten vier Jahre.

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