Nach dem Frauenstreik am Freitag wäre es für die westlichen, liberalen Gesellschaften die Gelegenheit, daran zu erinnern, wie viel sie der Identitätspolitik zu verdanken haben. Ohne sie gäbe es keine Frauenemanzipation, keine Bürgerrechtsbewegung, keine Gay Pride.
Identitätspolitik ist gerecht, weil sie marginalisierten Gruppen jene Selbstachtung verleiht, die für ihre Befreiung notwendig ist. Aber Identitätspolitik trägt auch einen tiefen Widerspruch in sich. Und in gewisser Weise ist der 14. Juni ein Symbol für dieses Paradox. Es gäbe nämlich etwas viel Besseres als einen Frauenstreik.
Um das zu verstehen, kann man zu den Ursprüngen der Identitätspolitik zurückgehen, zum Beispiel zu einem heissen Nachmittag im August 1963, als Martin Luther King vor dem Lincoln Memorial in Washington seine berühmte Rede hielt, in der er das Ziel seiner Identitätspolitik formulierte: «Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht nach der Farbe ihrer Haut beurteilt werden, sondern nach dem Gehalt ihres Charakters.»
Seine Kinder sollten zuerst an ihren individuellen Fähigkeiten gemessen und nicht nach der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe beurteilt werden.
King berief sich auf die Unabhängigkeitserklärung
King berief sich in seiner Rede explizit auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die den Anspruch auf Gleichheit zweihundert Jahre früher in eine so schlichte wie endgültige Formel goss: «Wir halten die Wahrheit für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geboren sind und von ihrem Schöpfer mit einigen unveräusserlichen Rechten ausgestattet wurden, darunter das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück.»
Einige der Verfassungsgeber, George Washington und Thomas Jefferson etwa, waren selbst Sklavenhalter und zählten die Afroamerikaner offenbar nicht zu jenen Menschen, die das Recht auf Gleichheit besassen. Und auch zu Zeiten Martin Luther Kings war dieser Anspruch nirgends verwirklicht. Nach wie vor herrschte in weiten Teilen des Landes Rassentrennung. Die gewaltsame Unterdrückung der afroamerikanischen Bevölkerung war allgegenwärtig.
Zugehörigkeit zu einer Gruppe kann eine Stärke sein
Nun besitzt jeder Mensch zumindest eine doppelte Identität. Er gehört zu einer Gruppe und definiert sich selbst als Individuum. Da die Afroamerikaner wegen ihrer Gruppenidentität diskriminiert wurden, kämpften King und viele andere zuerst dafür, die Solidarität zu fördern. Das heisst, diese Gruppenidentität zu befestigen, sie nicht als Makel, sondern als Stärke zu begreifen. Das konnte allerdings nur der erste Schritt auf dem Weg zur Befreiung sein.
Der zweite Schritt müsste diese Differenz schliesslich wieder aufheben. Mehr als vierzig Jahre später, nach vielen Kämpfen, die Fortschritte und Rückschläge gebracht hatten, forderte ein junger Senator aus Illinois diesen zweiten Schritt von der Mehrheitsgesellschaft ein. Auf dem Konvent der Demokratischen Partei in Boston erinnerte er daran, wie wenig diese Gleichheit verwirklicht war. Die sozialen Missstände würden das Wohl der gesamten Gesellschaft gefährden, die fehlende Ungleichheit betreffe nicht nur die Marginalisierten, sondern jeden Bürger, ob privilegiert oder nicht.
«Während ich hier rede», so sprach dieser Mann, «gibt es jene, die uns trennen wollen. (...) All jenen sage ich: Es gibt kein liberales Amerika, kein konservatives Amerika, es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika. Es gibt kein schwarzes Amerika, kein weisses Amerika, kein Latino-Amerika, kein asiatisches Amerika, es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika.»
Dieser Mann hiess Barack Obama, und es war diese hoffnungsvolle, mitreissende Rede, die ihn auf einen Schlag landesweit berühmt machte und ihn ins Weisse Haus tragen sollte.
Obama forderte das Ende der Identitätspolitik
In seiner Rede forderte er im Grunde das Ende der Identitätspolitik. Er wollte jene Unterschiede, die hervorzuheben so notwendig gewesen war, um das Unrecht sichtbar zu machen, wieder aufheben. Er wollte, dass Martin Luther Kings Traum endlich wahr wurde. Er, wie alle Marginalisierten, wollten als Individuum gesehen werden, nicht als Mitglied einer Gruppe. Er wollte dieser Unsichtbarkeit entkommen, die der Schriftsteller Ralph Ellison schon in den Fünfzigerjahren in seinem Roman «The Invisible Man» als Folge der Rassentrennung erkannt hatte. «Wer sich mir nähert», meint der namenlose, schwarze Ich-Erzähler, «sieht nur meine Umgebung, sich selbst oder die Produkte seiner Fantasie – ja, alles sieht er, alles, nur mich nicht.»
War Obama, da er nun das höchste Amt der USA erreicht hatte, endlich sichtbar geworden? War der Traum nach Gleichheit mit seiner Wahl so weit verwirklicht, dass die Hautfarbe keine Rolle mehr spielte und nun auch ein Afroamerikaner Präsident werden konnte? Einen Hinweis darauf, dass etwas schiefgegangen sein könnte, liefert Ben Rhodes, Obamas aussenpolitischer Berater.
In seinem jüngst erschienenen Buch über die Jahre an der Seite Obamas im Weissen Haus berichtet er von einer weiteren massgeblichen Rede Obamas, jener, die er in seinem ersten Amtsjahr an der Universität in Kairo hielt.
Alle sahen nur den schwarzen Präsidenten – und hörten nicht zu
Es war eine Grundsatzrede, in der Obama für einen Neuanfang in den Beziehungen zwischen den USA und der arabischen Welt plädierte. Im Publikum sassen gemäss Rhodes säkular orientierte Aktivisten, Intellektuelle, politische Anführer, Kleriker, Frauenrechtlerinnen und Mitglieder der Muslimbruderschaft. Der Erfolg war phänomenal.
Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Ansichten fühlten sich alle von Obamas Worten zur Frauenfrage, zu Israel und zum Islam angesprochen. Alle stimmten Obama zu. Auf internationaler Ebene dieselbe Harmonie. Die EU, Pakistan und auch die israelische Regierung begrüssten die Rede.
War es wirklich die Rede, die überzeugte? Rhodes liefert eine bittere Pointe. Jahre später habe er eine Palästinenserin getroffen. Sie habe die Kairoer Rede niemals vergessen. Sie sei einer der Auslöser für den Arabischen Frühling gewesen. «Aber es war nicht die Rede. Er war es. Die jungen Leute sahen ihn, einen Schwarzen als Präsidenten Amerikas, jemanden, der ähnlich aussah wie sie. Und sie dachten: Warum nicht ich?»
Und wieder war Obama unsichtbar geworden. Noch immer spielte es weniger eine Rolle, was er gesagt hatte, sondern wie er aussah. Auch wenn dieses Aussehen nun als Auszeichnung, nicht mehr als Makel definiert wurde, so schrieb es ihn doch in seiner Gruppenidentität fest, die er nicht selbst gewählt hatte. Martin Luther Kings Traum von der Gleichheit? Er blieb ein Traum.
Identität ist Fiktion
Hier wird das Paradox jeder Identitätspolitik augenscheinlich. Jede Gruppenidentität ist eine Fiktion, eine Erfindung, die erst durch die Diskriminierung zustande kommt. Die Kriterien, die für diese Identität angeführt werden, sind willkürlich, sie haben keine Essenz. Afroamerikaner unterscheiden sich untereinander, so wie sich Frauen oder Homosexuelle untereinander unterscheiden.
Es ist eine Fiktion, die sie anhand eines beliebigen Kriteriums in dieser Identität festschreibt, und wie jede Fiktion ist sie willkürlich. Es ist die geschichtliche Kontingenz, die sie hervorbringt, das Interesse einer privilegierten Gruppe, ihre Macht zu legitimieren und zu befestigen.
Die Unterdrückung selbst ist natürlich keine Erfindung, und um sie zu überwinden, muss diese Fiktion akzeptiert werden. In Kairo wurde Obama Opfer dieses Paradoxons, denn natürlich wurde er auch als Afroamerikaner gewählt; aber was sollte ein in Hawaii geborener, in Harvard ausgebildeter Mann mit einer palästinensischen Frau gemeinsam haben?
Identitätspolitik kann in Extremismus enden
Und es gibt ein weiteres Problem. Es ist nämlich nicht gegeben, dass Identitätspolitik die Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft zum Ziel hat. Separatismus kann damit genauso begründet werden, und tatsächlich wurde die Bürgerrechtsbewegung in den ersten Jahrzehnten beinahe vom Konflikt zwischen Separatisten und jenen, die Anerkennung forderten, zerrissen.
Malcolm X verlangte für die Afroamerikaner einen eigenen Staat, eigene Gesetze. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung misstraute er den Weissen und hielt Kings Bestreben um Anerkennung für eine besondere Form der Unterwürfigkeit. Er sah in seiner Gruppenidentität keine Fiktion, sondern begründete sie essenzialistisch, durch eine Differenz, die niemals überwunden werden könne. Wohin das führte? In den Totalitarismus, den Rassismus und den Antisemitismus seiner politisch-religiösen Stosstruppe, der Nation of Islam.
Das ist die hässliche, zerstörerische Seite der Identitätspolitik. Sie zeigt sich in unseren Tagen an vielen Orten, im erstarkten Nationalismus, im Rassismus der neuen Rechten. Ihnen allen geht es nicht um Gleichheit, sondern um Festschreibung der Unterschiede. Jede marginalisierte Gruppe, die den Grund für ihre Zurücksetzung nicht als Fiktion begreift und sie diskutiert, verfällt in ein totalitäres Denken.
Wir können das, was wir sein wollen, zwar aus uns selbst begründen, aber wir können uns selbst nicht die Anerkennung dafür geben. Dafür sind wir auf die anderen angewiesen, auf jene, von denen wir uns unterscheiden. Deshalb bleibt in einer liberalen Gesellschaft die Gleichheit ein Postulat, das jeden Bürger betrifft und für das sich jeder, ob er nun privilegiert ist oder nicht, einzusetzen hat.
Der Grund für seine Privilegierung ist nämlich ebenso eine Fiktion und also zufällig. Jeder muss damit rechnen, irgendwann als Teil einer Minderheit diskriminiert zu werden, und einige weisse, alte Männer begreifen das gerade. Sie wären gut beraten, sich dafür einzusetzen, dass der nächste Frauenstreik überflüssig wird. Entweder weil die Gleichheit verwirklicht sein wird, oder, falls das nicht der Fall sein sollte, nicht nur der weibliche Teil der Bevölkerung die Arbeit niederlegt, sondern alle, die gleichberechtigt unter Gleichen leben wollen. Frauenstreik ist gut, Generalstreik ist besser.