An einem Sommerabend erschiesst ein Mann in Affoltern am Albis seine Frau, die beiden Söhne und anschliessend sich selbst. Die Nachbarn sind entsetzt. Es seien gebildete Leute mit guten Jobs gewesen, die Frau sympathisch, die Kinder fröhlich. Niemand habe das kommen sehen, und wie immer in diesen Fällen stellen sich alle die Frage, was den Mann zu dieser Tat getrieben haben könnte.
Einige Wochen zuvor äussert sich eine Nationalrätin der SVP in der parteieigenen Zeitung gegen staatliche, frühkindliche Förderung. Sie bezeichnet sie als Versuch der Linken, die sogenannten Fehler in der Migrationspolitik auszubügeln. Es seien vor allem Migranten, die schwere Gewalttaten verübten, und sie vergleicht staatliche Erziehungsmassnahmen mit der Praxis der Fremdplatzierung, der Verdingung von Kindern.
Zwei Meldungen, die in diesem Sommer einige Tage die Schlagzeilen beherrschten, einen kurzen medialen Sturm verursachten und nach einigen Tagen wieder in Vergessenheit gerieten. Zwei Meldungen, die vordergründig nichts miteinander zu tun und doch einen gemeinsamen Bezugspunkt haben, und der seine Aktualität über den Tag hinaus behalten sollte. Es ist das Bild der Familie, das in unserer Gesellschaft vorherrscht, die Fragen, in welchen Rollenmustern wir leben wollen.
Die Kleinfamilie gilt als Keimzelle des Staats
Familie ist in der Vorstellung der meisten Menschen das Synonym für Geborgenheit, für Sicherheit, Harmonie und Stabilität. Es ist jene Struktur, die unserer Gesellschaft das Fundament legt, die geschützt, gefördert und gepflegt werden soll, sie ist die Keimzelle des Staates.
Diese Familie hat hierzulande in aller Regel die Form der Kleinfamilie. Über die Hälfte der Schweizer Bevölkerung lebt in einem Haushalt mit mindestens einem Kind, und in drei Vierteln besteht dieser Haushalt aus verheirateten Eltern und den gemeinsamen Kindern. Die innerfamiliäre Struktur ist mehr oder weniger vorgegeben. Teure Krippenplätze sorgen dafür, dass ein Elternteil im Haushalt bleibt. Alles andere ist wirtschaftlich unsinnig.
Das zusätzliche Einkommen wird von Steuern, Krankenkassenprämien und Fremdbetreuungskosten gleich wieder aufgefressen. Und wer das ist, ist ebenfalls festgelegt. Es gibt einen Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen, aber es gibt keine Elternzeit. Nach zwei Tagen hat der Mann wieder auf der Arbeit zu erscheinen. Ob sie es wollen oder nicht, finden sich viele Paare nach einiger Zeit in der klassischen Rollenverteilung wieder. Frau schaut zu den Kindern, Mann verdient das Geld.
Jene, die gerne anders leben möchten, trösten sich damit, dass die Frau nach der ersten Zeit mit den Kindern wieder arbeiten geht. Es ist ein Modell, das in den Fünfzigerjahren entwickelt wurde und das Erwachsenenleben einer Frau in drei Phasen teilte. Die Zeit der Ausbildung, die Zeit der Mutterschaft, und schliesslich der Wiedereinstieg ins Berufsleben. Leider funktioniert dieses Modell nicht.
Für die meisten Frauen bedeutet die Geburt des Kindes der endgültige Abschied vom Berufsleben. Zwar ist Frauenerwerbsquote hierzulande die höchste in Europa, das Arbeitsvolumen der Frauen jedoch weltweit eines der niedrigsten. Die meisten Frauen arbeiten Teilzeit. Für die berufliche Entwicklung ist dies Gift. Gemäss der OECD ist es für eine Frau nur in Japan und in der Türkei schwieriger, eine berufliche Karriere zu machen.
Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.
Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.
Fluchwort «Karriere»
Karriere? Auch dies ist ein ideologischer Begriff. Er unterstellt, dass eine Mutter, die auf eine eigene «Karriere» besteht, ihren Egoismus und ihren Ehrgeiz über das Wohl der Kinder stellt. Dabei geht es nur um die Forderung nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Sie ist die erste Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Tatsächlich gerät eine Frau mit der Mutterschaft häufig in eine lebenslängliche finanzielle Abhängigkeit zum Vater ihrer Kinder.
Die Familie wird für sie zur Falle. Sie kann sich nur damit trösten, dass sie nicht alleine in diesem Käfig sitzt. Der Ehemann leistet ihr Gesellschaft. Und mit jedem Tag, den er mit dem Erwerb und nicht mit der Betreuung der Kinder verbringt, werden die Aussichten auf eine Befreiung kleiner. Die Zeit, in der die Frau kein eigenes Geld verdient, wird bei der Scheidung in Rechnung gestellt. Schliesslich hat sie zugunsten des Mannes und der gemeinsamen Kinder auf ihre Karriere verzichtet, und er hat sie gerechterweise für die finanziellen Einbussen zu entschädigen.
Zudem muss nach der gängigen Gerichtspraxis jener Elternteil, der die Kinder betreut, bis zur Einschulung des jüngsten Kindes überhaupt nicht, danach lediglich zu fünfzig Prozent einer Erwerbsarbeit nachgehen. Und natürlich ist dieser Elternteil meistens die Frau. Der Mann hat für ihren Unterhalt zu sorgen.
Wer sich überdies den grössten aller bürgerlichen Träume erfüllen und ein Haus oder eine Wohnung kaufen und sich also für die nächsten zwanzig oder dreissig Jahre verschulden will, der sollte sich bewusst sein, dass er sich damit nicht zuerst ein behagliches Nest, sondern einen Kerker baut, ein Hochsicherheitsgefängnis, das er nur um den Preis des persönlichen Ruins verlassen kann. Trennung, Scheidung? Finanziell unerschwinglich.
Dieses Rollenmodell kettet Menschen gegen ihren Willen aneinander, sie müssen auf Gedeih und Verderb zusammenbleiben, selbst dann, wenn ihre Beziehung längst unerträglich geworden ist und sie sich gerne trennen würden.
Häusliche Gewalt ist eine Folge der gesellschaftlichen Strukturen
Trotzdem ist der Wunsch, ein selbstbestimmtes, autonomes Leben zu führen, natürlich längst in den Köpfen angekommen. Zu oft wird er durch die gesellschaftliche Wirklichkeit verhindert. Das schafft Frustration, Druck und Stress. Nur in den seltensten Fällen kommt es wie in Affoltern am Albis zum Äussersten, aber häusliche Gewalt gehört in diesem Land leider zum familiären Alltag wie Weihnachten und der gemeinsame Sommerurlaub.
Und eine Ursache für diese Gewalt liegt darin, dass Menschen in einer gesellschaftlichen Struktur leben müssen, die nicht ihrem Bewusstsein entspricht. Es wäre Zeit, diese Strukturen zu ändern.
Leider befindet sich die Schweiz in Sachen Familienpolitik im Pleistozän. Sie ist zuerst eine Frage der Ideologie. Erst seit einer Generation, seit 1988, kennt die Schweiz ein modernes Eherecht. Bis dahin galt alleine das patriarchale Modell. Der Mann bestimmte über die Frau. Er verwaltete ihr Vermögen, bestimmte den Wohnsitz und hatte Anspruch auf ihre unentgeltliche Mitarbeit im Betrieb. Die Frau durfte ohne Zustimmung des Mannes keine Kaufverträge unterzeichnen, sie erhielt automatisch seinen Familiennamen.
Und es sollte nicht vergessen gehen, dass der Widerstand gegen das neue Eherecht von einem Mann angeführt wurde, der sich wenige Jahre später an die Spitze der rechtsbürgerlichen Bewegung setzen sollte, von Christoph Blocher nämlich. Der Kampf gegen die Selbstbestimmung der Frau und gegen alternative Lebensmodelle geht traditionell einher mit Ausländerfeindlichkeit, mit der Ablehnung alles Fremden.
Der Artikel der SVP-Nationalrätin ist dafür nur ein weiteres Beispiel. Es ist kein Zufall, dass sie Familienpolitik mit Einwanderungspolitik vermengt und gleichzeitig versucht, die Motive für die administrativen Zwangsmassnahmen in ihr Gegenteil zu verkehren.
Wer nicht ins Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie passte, wurde bestraft
Tatsächlich wandte sich diese unmenschliche Praxis gegen ledige Mütter, gegen Fahrende, gegen Menschen ohne festen Wohnsitz, das heisst gegen all jene, die sich nicht in das bürgerliche Schema fügten. Die Opfer wurden sterilisiert oder kastriert, ohne Gerichtsurteile inhaftiert, sie wurden gegen ihren Willen medikamentös behandelt, ihnen wurden die Kinder weggenommen, oder man bedrohte sie mit dem häufigsten Zwangsmittel, der Bevormundung. Das gesamte Arsenal staatlicher Gewalt wurde eingesetzt, um die Menschen in die einzige mögliche Lebensform zu zwingen: die bürgerliche Kleinfamilie mit der klassischen Rollenverteilung.
Die Nationalrätin betreibt also Geschichtsklitterung. Sie ist damit leider nicht alleine. Nach einer Phase, in der die schweizerische Öffentlichkeit dieser schrecklichen Geschichte mutig ins Gesicht schaute, der Bundesrat eine Expertenkommission einsetzte und sich bei den Opfern entschuldigte, wird versucht, diese Vergangenheit umzudeuten und die Opfer zu diskreditieren. Die Frau Nationalrätin wurde medial munitioniert.
So erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» Anfang Juli ein Artikel, der Ursula Müller-Biondi, die als junge, schwangere Frau in der Strafanstalt Hindelbank administrativ versorgt wurde und durch ihren langjährigen Kampf wesentlichen Anteil an der offiziellen Anerkennung dieses Unrechts hat, als «Berufsopfer» diffamierte. Dieser Artikel steht in einer Reihe von Verlautbarungen, die Wissenschaftlerinnen der Unabhängigen Expertenkommission, ihre Methoden und damit natürlich auch die Ergebnisse ihrer Forschung diskreditieren. Man sollte diesen Versuchen, die Debatte zu ideologisieren, nicht auf dem Leim gehen und sich an die Fakten halten.
Täter: Mann, verheiratet, Schweizer
Das wäre auch im Falle der Familienmorde hilfreich. Die Täter sind in neunzig Prozent der Fälle Männer, zu zwei Dritteln verheiratet, überwiegend Schweizer, und sie sind, im Vergleich zu anderen Gewalttätern, überdurchschnittlich alt, nämlich etwas über siebenundvierzig. Sie sind psychiatrisch unauffällig, aber oft geht der Bluttat bereits eine Geschichte der häuslichen Gewalt voraus. Das alles sind deutliche Hinweise darauf, dass der Druck in den Familien mit den Jahren nicht abnimmt, sondern steigt.
Warum aber fliehen die Frauen nicht vor diesem Terror, bevor es zu spät ist? Oft ist die Antwort banal: Weil sie es sich wirtschaftlich nicht leisten können. Wer nicht in der Lage ist, seine eigene Existenz zu finanzieren, kann keine freien Entscheidungen treffen. Um dieses Übel zu bekämpfen, sollte man sich fragen, welche sozialen Voraussetzungen ihm zugrunde liegen, und den Menschen, die Kinder wollen, die Möglichkeit geben, in gleichberechtigten Partnerschaften zu leben, und sie nicht durch staatliche Fehlanreize in überkommene Rollenmodelle zwingen.