Der Schriftsteller Lu Xun, von dem es heisst, er habe mit seinem «Tagebuch eines Verrückten» die Moderne in der chinesischen Literatur begründet, bringt in einer Rede aus dem Jahr 1927 eine Beobachtung zum Ausdruck, die in gewisser Weise auch hundert Jahre später noch gültig ist. «Wir haben Menschen, aber keine Stimme, die Einsamkeit ist gross. Kann ein Mensch ohne Stimme leben? Nein, man kann ihn als tot bezeichnen oder, milde ausgedrückt, als stumm.»
Lu Xun nahm Bezug auf die chinesische Schrift, jenes «schreckliche Erbe, das uns unsere Vorfahren hinterlassen haben. Selbst nach jahrelangem Studium ist es schwierig zu schreiben». Ein ganzes Volk, das sich kaum ausdrücken könne, keine Möglichkeit habe, seine Erfahrungen, seine Gefühle mitzuteilen – das sei das Schicksal Chinas. Und obwohl die Alphabetisierung mittlerweile Werte von über 98 Prozent erreicht, bleibt China ein stummer Riese, jedenfalls in unseren, den westlichen Ohren.
Man kennt ähnliche Situationen von vielen Gelegenheiten: Da sitzt man in gepflegter und angeregter Runde zusammen, erörtert unter interessierten Zeitgenossen das kommende Jahr, die Weltlage, die Herausforderungen, die Gefahren und die Chancen. Durchaus differenziert spricht man über den Brexit und über die anstehenden Wahlen in den USA, über den Klimawandel und die sozialen Unruhen in Südamerika – und nach einigen Minuten fällt das Gespräch unweigerlich auf das Reich der Mitte. Im selben Augenblick verflacht die eben noch kenntnisreiche Diskussion und ähnelt schon bald einem gleichförmigen Allerlei aus wenigen persönlichen Erfahrungen und Versatzstücken der laufenden Berichterstattung.
Zwei Narrative beherrschen das Thema China im Westen
Und wie jene folgen die privaten Gespräche in der Regel einem von nur zwei Mustern. Das erste beschwört die wirtschaftliche Potenz Chinas in leuchtenden und einschüchternden Beispielen. Zehntausende Ingenieure würden jede Woche die dortigen Universitäten mit Promotion verlassen, schon heute beanspruche China mehr als siebzig Prozent des Benzinbedarfs – was immer auch zitiert wird, ob korrekt oder nicht, resultiert in der Einsicht, dass der westliche Abstieg im Angesicht eines solchen Riesen unvermeidlich und eine ausgemachte Sache sei.
Die Grosse Mauer sei schliesslich das einzige Bauwerk, das man aus dem All erkennen könne, die chinesische Zivilisation reiche fünftausend Jahre zurück, und jede Woche falle eine weitere Unternehmung in chinesische Hände. Die Sprache des einundzwanzigsten Jahrhunderts werde Mandarin sein. Ferner seien die Chinesen nicht wie wir Europäer von Skrupeln angekränkelt. Fortschritt, Wachstum, Entwicklung – alles Werte, die dort ohne Wenn und Aber begrüsst und verfolgt würden. Die hiesige Jugend wird zitiert, die zehn verschiedene Schwierigkeitsgrade und darüber hinaus einen Begriff für jene Stufe kenne, die Europäern verschlossen sei und nur von Asiaten erklommen werden könne, nämlich das sogenannte Asia Level. Asiaten, besonders Chinesen, seien hungriger, stünden früher auf und gingen später zu Bett, sie seien durch den Wohlstand nicht verwöhnt und ähnelten dabei einer Kultur, die es wohl in Europa auch einmal gegeben habe, aber mittlerweile ausgestorben sei, jene Kultur, die Disziplin und Opferbereitschaft höher bewerte als Freiheit und persönlichen Lebensstil.
Das zweite Narrativ ist das Gegenbild zu diesen Minderwertigkeitskomplexen, die Negation der Bewunderung für die schiere Energie des Gelben Riesen. Es betrifft die Missachtung Chinas für alles, was uns Europäern die Aufklärung gebracht habe. Das Recht der freien Meinungsäusserung, Gewaltentrennung, Menschenrechte – Werte, die zwischen dem Jangtsekiang und dem Gelben Fluss nur belächelt würden. Ohnehin seien deren Sitten, falls man denn überhaupt von Sitten reden könne, kaum, das heisst, eigentlich überhaupt nicht, mit den unseren in Übereinstimmung zu bringen. Die lächerliche chinesische Sucht, den Westen zu kopieren, zeuge vom Mangel an eigenen Traditionen. Gleichzeitig gebe es ein peinliches Unvermögen, auch nur die einfachsten Regeln zu verstehen und sich ihnen anzupassen. Ein chinesischer Tourist verlange stets die eigene Kost, und ob das Restaurant nun in Sichtweite der Uffizien, des Eiffelturms oder der Rigi liege – die Karte und die Speisen seien kantonesisch. Das Geräusch allerdings, das Schlürfen, verstehe man auch hierzulande, leider.
Menschenrechtsthemen finden eine gewisse Verbreitung
Gerade die Käsekultur sei ihnen nicht zu vermitteln, denn sämtliche 1,3 Milliarden Chinesen litten an Laktoseintoleranz. Und natürlich seien die Chinesen hungrig und leistungsbereit, aber gleichzeitig hätten sie im Kern nicht begriffen, was der Grund für den europäischen Erfolg sei, nämlich der freie Geist, und deshalb möge dieser Aufschwung zwar rasant, aber nicht nachhaltig sein, weil nicht von inneren Werten stabilisiert.
Lediglich jene Nachrichten, die in eines der beiden stereotypen Narrative passen, finden bei uns eine gewisse Verbreitung. Tibet und die dortigen Probleme, zuletzt die Menschenrechtsverletzungen gegen die Uiguren in der Provinz Xinjiang, natürlich die Proteste in Hongkong, dazu die Charts, deren Kurven immer steil nach oben streben – ein alternatives, differenziertes Bild Chinas ist bis heute nicht entstanden. Wir studieren und kennen die verschiedenen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten und ihre politischen Programme, wir verfolgen das britische Drama in allen Einzelheiten, aber wir kennen keinen einzigen massgeblichen chinesischen Intellektuellen und haben nicht die leiseste Ahnung, welche Kämpfe in der Kommunisten Partei Chinas ausgefochten werden. Das Wissen der europäischen Öffentlichkeit über die chinesischen Zustände bleibt marginal, es dominieren die Karikaturen. Diese Zerrbilder bestimmen übrigens nicht nur die privaten Kreise. Auch Regierungen unterliegen bisweilen ihren Selbsttäuschungen, und manchmal sind die Folgen fatal.
Westliche Ignoranz gegenüber China
Vor zwanzig Jahren, im März 2000, begründete der damalige US-Präsident Clinton, warum er und seine Administration dafür kämpften, China in die Welthandelsorganisation aufzunehmen, und er dem Kongress die entsprechenden Gesetzesvorlagen präsentieren werde. An der John-Hopkins-Universität in Baltimore, ironischerweise im Beisein von Paul Wolfowitz, der unter George W. Bush ebenfalls für weitreichende Fehlentscheidungen, allerdings in der Irak-Politik, berühmt werden sollte, räumte Clinton ein, dass die chinesische Regierung keine Opposition dulde und grundlegende Bürgerrechte und die Religionsfreiheit missachte. Einige gewichtige Stimmen seien der Meinung, man solle Peking für diese Verbrechen nicht auch noch belohnen. Aber die Wahl zwischen wirtschaftlichen Rechten und Menschenrechten sei eine falsche, so meinte Clinton. Und es stehe nicht zur Diskussion, ob man diese Praktiken verurteile oder gutheisse – es stelle sich alleine die Frage, wie man sie verbessern könne. Und der beste Weg sei es, China in das globale Wirtschaftsnetz einzubeziehen und es in unsere, also die westliche, also die menschliche, in die gute Richtung zu schieben.
Dieses Dokument steht stellvertretend für die westliche Ignoranz gegenüber China. Die Selbstgefälligkeit, mit der Clinton die Menschenrechte für die westliche Kultur in Anspruch nimmt, die Abfälligkeit, mit der er China als ungezogenen Halbstarken zeichnet – all dies ist emblematisch geworden.
Grosses Misstrauen gegenüber dem Westen
Clintons Regierung rechnete zwar damit, dass China eine eigene Agenda verfolgen würde, aber nicht, dass es diese Agenda auch würde durchsetzen können. Es ist geradezu ironisch, dass es ausgerechnet der Freihandel war, mit dem der amerikanische Präsident glaubte, China zähmen zu können. Man hätte nur die Geschichte des Opiumkriegs studieren müssen, um zu begreifen, dass man im Reich der Mitte eine etwas andere Sicht auf diesen Begriff hat. Man hätte nur die Ruinen des von Franzosen und Briten zerstörten Yuanmingyuan, des Sommerpalastes in Peking, besichtigen müssen, um zu sehen, wie gross das dortige Misstrauen gegenüber salbungsvollen Worten aus dem Westen ist. Für China bleibt diese Zerstörung ein lebendiges Trauma, ein Zeugnis für das «Jahrhundert der Demütigung», der «Ground Zero» dieser Kultur. Aber alle diese Zeichen, diese Geschichte blieben in unseren Ohren stumm, und im Jahr darauf wurde China tatsächlich in die WTO aufgenommen.
Die weitere Entwicklung ist bekannt. China ist zur führenden Weltmacht aufgestiegen, es hat eine atemberaubende, beispiellose Entwicklung hinter sich, die alles andere als abgeschlossen ist. Die Menschenrechtslage allerdings hat sich in keiner Weise verbessert, und ebenso wenig die Position des Westens, etwas an dieser Situation ändern zu können. Der Mann, der mindestens noch bis zum Jahr 2020 im Weissen Haus sitzen wird, schneidet mit seinem Handelskrieg vor allem der eigenen Wirtschaft ins Fleisch. China lässt sich vom Westen längst nichts mehr diktieren. Diese Zeiten sind vorbei. Und wir, die gewöhnlichen Konsumenten, lassen uns die chinesischen Konsumgüter frei Haus liefern, aber wir haben immer noch kaum eine Ahnung, mit welchem Partner wir es zu tun haben.
Chinesische Geschichte oder Kultur? Keine Ahnung.
Woher die Angst vor China rührt? Ganz einfach: Es ist die Angst des Ignoranten vor dem Unbekannten, vor dem, was er nicht lesen, was er nicht verstehen kann. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Reich der Mitte nottut. China ist zu unserem Nachbarn geworden. Denn ihn Anlehnung an den grossen Dichter Lu Xun könnte man fragen: Kann ein Mensch ohne Ohren leben? Nein, man kann ihn als tot bezeichnen, oder, um es milder auszudrücken, als taub.
Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.
Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.