Seit ich erwachsen bin, habe ich in der Stadt gelebt. War ich von Stadtmenschen umgeben, teilte ich mit ihnen Freizeitbeschäftigungen, politische Ansichten, Einrichtungs- und Kunstgeschmack. Mal waren es überschaubare regionale Metropolen wie München oder Zürich mit ihren fantastischen Kulturprogrammen und vornehmlich hippem Menschengemisch. Dann wieder Mega-Citys wie Hamburg, Berlin und immer wieder auch New York oder Los Angeles. Nie haben mich Entfernungen oder Dimensionen genervt, nie waren zu viele Menschen um mich herum, nie war es mir zu laut.
Dann stolperten wir auf der Suche nach einer neuen Bleibe in der Schweiz über ein mittelalterliches Haus in einer mittelalterlichen Stadt – und zogen nach langwierigen Renovierungsarbeiten just eine Woche vor dem europaweiten Lockdown in einen Ort mit nicht einmal vierhundert Einwohnern.
Vogelgezwitscher interessiert mehr als Tweets
Hatten wir uns dieses Kontrastprogramm ursprünglich mit monatlichen Besuchen bei unseren Berliner Freunden, einer ausgedehnten Kalifornien-Reise im Herbst und jeder Menge Kurztrips ins benachbarte Ausland schöngeredet, waren wir nun auf uns zurückgeworfen – und auf die Natur drum herum.
Mein Tag beginnt nun nicht mehr in einem Café an der Ecke, bewaffnet mit Tageszeitungen – sondern mit langen Wanderungen, versorgt mit immer neuen Podcasts, die ich als App auf mein Handy geladen habe, zusammen mit Apps zur Pflanzen- und Vogelstimmen-Erkennung. Deswegen weiss ich inzwischen eine Menge über die Vielfalt des Gemüses, das in unserer Region angebaut wird, welche Bäume und Sträucher meine Wege säumen, interessiere ich mich eher dafür, wer da frühmorgens schon so aufreizend zwitschert – und weniger, welche Tweets jetzt gerade von sich reden machen.
Der Landsitz wird zum Statussymbol
Interessanterweise geht das nicht nur mir so: Seit die Nähe zu anderen Menschen in Verruf geriet, Arbeit und Unterricht am Laptop zur Normalität erklärt wurden und damit die zentrale Bedeutung des analogen Miteinanders als Ursprung jeder Urbanisierung verloren ging, tauscht jeder, der die Möglichkeit hat, seine Stadtwohnung gegen einen Landsitz. Und schwärmt auf Instagram vom Rosenzüchten, von praktischen Gummistiefeln und dem unvergleichlichen Erlebnis eines Sonnenuntergangs.
Wir werden sehen, was davon überlebt, wenn diese spezifische Krise via Impfstoff überwunden sein wird. Die Erkenntnis, dass wir doch nicht die Damen und Herren der Schöpfung sind? Dass die Natur uns glücklicher macht als jeder technische Fortschritt? Ich jedenfalls werde wieder anfangen zu reiten. Ist doch erstaunlich, auf was man alles verzichtet hat in all diesen Jahren, in all den aufregenden Städten.
Lisa Feldmann hat sich schon als Chefredaktorin der Zeitschrift «Annabelle» über die tiefere Bedeutung unserer alltäglichen Lifestyle-Produkte Gedanken gemacht. Heute liest man darüber jeden zweiten Samstag im BLICK und auf ihrem Blog feldmanntrommelt.com