«Guete Morge, schöne Tag»: Seit vier Jahren begrüsst Bruno Niederhäuser fünfmal die Woche Pendlerinnen und Pendler am Bahnhof Bern. Zwischen 6.30 und 9 Uhr steht er auf seinem Posten, vor ihm ein Tisch mit einer Donald-Duck-Figur, einem glitzernden Schmetterling und einer Lichterkette – und dann natürlich das Schälchen fürs Münz. Sein Umsatz bleibt Geschäftsgeheimnis, die Anzahl Begrüssungen schätzt er auf täglich 500. Für viele Menschen ist der 56-Jährige der erste morgendliche Kontakt. Jedenfalls ist er der Erste, der ein paar freundliche Worte für einen übrig hat.
Anders gesagt: Der Mann hat eine Markt-, mehr noch freilich eine Emotionslücke entdeckt.
Niederhäuser war drei Jahre alt, als sich seine Eltern trennten. Er landete erst im Heim, mit sechs wurde er Verdingbub bei einem Bauern. Geplagt wurde er damals – vom Bauern, aber eigentlich vom ganzen Dorf, wie Niederhäuser sagt. Er wurde Maurer, später Kokaindealer im grossen Stil. Insgesamt 13 Jahre sass er im Gefängnis. Mit den Drogen sei es längst vorbei, beteuert er. Heute arbeitet er als Künstler, schafft Holzskulpturen und malt. Betteln gehe er deswegen, weil die Sozialhilfe ihm angeblich zwar ein Existenzminimum garantiere. «Aber schon das Wort sagt alles: Minimum. Damit kann man kein anständiges Leben führen.» Zu einem anständigen Leben gehört für Niederhäuser auch eine neue Wohnung. Er sucht ein bis zwei Zimmer in oder um Bern herum, maximal 1200 Franken darf es kosten. Haustiere müssen erlaubt sein.
Wenige Hundert Meter entfernt Richtung Bärengraben steht Ramadan Mohamed und verkauft «Surprise»-Hefte. Zumindest möchte er das. Früher setzte er an einem guten Tag zehn Magazine ab. Pro Ausgabe verdient er drei Franken; sehr viel wichtiger sei indes das Trinkgeld. «Heute gibt es Tage, da verkaufe ich kein einziges Heft.» Der 51-Jährige merkt, dass die Leute im Alltag weniger Bargeld benötigen und darum keines mehr bei sich haben. Allerdings harze das Geschäft nicht nur darum. «Es liegt auch am Ukraine-Krieg. Alles wird teurer, die Menschen müssen mehr aufs Geld schauen und sparen.»
Mohamed kennt den Krieg. Mit 14 Jahren wurde er eingezogen, 15 Jahre lang war er Soldat der eritreischen Armee. Auf seinem Handy hat er alte Fotos von sich und anderen Soldaten, die im Krieg gegen Äthiopien starben. Im Jahr 2000 landete Mohamed nach einer kritischen Bemerkung gegenüber einem Vorgesetzten im Gefängnis, wo er gefoltert wurde. Seither leidet er unter starken Rückenschmerzen. In der Dezemberkälte in der Berner Innenstadt spürt er sie besonders. «Am besten ist es, wenn ich auf und ab gehe», sagt er. Ruhig dastehen kann er nicht, mehr weh tut nur das Sitzen.
Mohamed sagt, er sei Optimist. Obschon ihn jetzt die Geldnot plagt. 977 Franken Sozialhilfe stehen ihm monatlich zu. 79 Franken kostet das Abo für den öffentlichen Verkehr, 40 Franken das Handy. Hinzu kommt alle drei Monate eine Stromrechnung über 155 Franken. Bleiben etwa 25 Franken pro Tag für Lebensmittel, Kleidung, Medikamente.
Doch Mohameds grösste Angst betrifft nicht seine finanzielle Situation, sondern die Möglichkeit, dass der Krieg auf die Schweiz übergreift. «Erst war der Krieg in Afrika, er war im Nahen Osten, jetzt ist er schon in Europa. Warum sollte er bald nicht schon hier bei uns sein?» Am meisten bedrückt ihn dabei nicht das eigene Schicksal, sondern jenes der Schweizerinnen und Schweizer. «Sie wissen nicht, was sie erwartet. Sie haben immer in Freiheit und Frieden gelebt. Sie kennen den Krieg nicht. Falls der Krieg kommt, werden sie besonders zu leiden haben.»
Bruno Niederhäuser und Ramadan Mohamed sind zwei völlig unterschiedliche Charaktere mit sehr verschiedenen Lebensgeschichten und Ansichten. Was sie gemeinsam haben, ist die Armut. Es ist die Erfahrung, dass andere ihnen das Leben schwer gemacht haben.
Und es ist die Sorge um das Wohl ihrer Mitmenschen.