Kommentar über Seltsamkeiten in der Covid-Bekämpfung
«Wer das Covid-Zertifikat bekämpft, kämpft nicht für die Freiheit»

In der Schweiz ist die Impfkampagne ins Stocken geraten, und das Covid-Zertifikat wird verteufelt. Beides wirft die Seuchenbekämpfung zurück. Statt Selbstbezogenheit braucht es mehr Solidarität. Ein Kommentar von Blick-Chefredaktor Andreas Dietrich.
Publiziert: 31.07.2021 um 00:29 Uhr
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Aktualisiert: 31.07.2021 um 16:17 Uhr
Andreas Dietrich, Chefredaktor Blick.
Andreas Dietrich

Zweimal ging es diese Woche darum, ob die Wirklichkeit wirklich ist oder nur eingebildet. Einmal auf wunderbare Weise, einmal auf wunderliche.

«Ich hoffe, dass ich jetzt nicht aufwache und alles war nur ein Traum.» Das sagte Jolanda Neff am Dienstag in Tokio unter Tränen, die ans Herz gingen. Es war kein Traum, es war wahrhaftig ein Triumph! Ihr Olympiasieg, das historische Dreier-Podest der Schweizer Mountainbikerinnen: wunderbare Realität.

Und es gab das Wunderliche. Dargeboten vom Zuger Ständerat Peter Hegglin. Er bekannte in einem «20 Minuten»-Video: «Ich konnte es irgendwie fast nicht glauben, dass ich an Covid erkranken könnte.» Er erkrankte, so heftig, dass er sechs Tage auf der Intensivstation lag. Erst nach rettender Sauerstoffzufuhr dämmerte ihm, dass die Pandemie keine Frage des Glaubens ist, sondern Wirklichkeit. Kein Traum, realer Albtraum.

Man wundert sich, in welcher Welt der Mitte-Politiker das letzte Jahr verbracht hat. Man wundert sich, dass er nach Monaten der Pandemie sagt: «Ich habe das Gefühl, das ist eine Erkrankung, die man wirklich ernst nehmen muss.» Man wundert sich, dass ein Parlamentarier ein «Gefühl» hat, wo Fakten sind, allein die Zahl von bisher über 4,2 Millionen Sars-CoV-2-Toten. Man wundert sich, dass sich der 60-Jährige nicht impfen liess, weil er sich für «sportlich und gesund» hält. Und man wundert sich dann nicht mehr, dass er – «Ich bin kein Impfgegner» – weiterhin viel Verständnis aufbringt für alle, die sich nicht impfen lassen. Denn es gehe «um die Abwägung, ob es einem mehr Vorteile oder mehr Risiken bringt».

So irritierend es ist, derart Unbedarftes von einem Standes- und Volksvertreter zu hören: Solche weitverbreiteten Seltsamkeiten tragen dazu bei, dass die Impfkampagne stottert und das Covid-Zertifikat verteufelt wird.

Sich impfen lassen oder nicht?
Dabei geht es um viel mehr als um persönliche Risikoabwägung. Es geht, so schwer das Eingeständnis dem Ego fallen mag, für einmal nicht nur um uns selbst. Wer sich impfen lässt, schützt sich und übernimmt zugleich Verantwortung für andere. Wer es nicht tut, stellt seine Befindlichkeiten über das Wohlergehen aller.

Das Virus ist vernarrt in Ungeimpfte. Je mehr es findet, desto eher kann es mutieren. Und wird so auch wieder für Geimpfte gefährlich, die nur eine begrenzte Immunität haben, etwa Alte oder Kranke. Es geht um unabänderliche Gesetzmässigkeiten der Virologie, aber auch um von uns beeinflussbares Verhalten. Man nennt es Solidarität.

Morgen feiern wir den 1. August: die Schweiz als Willensnation. Es wäre angezeigt, auch zur Nation der Impfwilligen zu werden.

Führt das Covid-Zertifikat zu Seuchen-Apartheid?
Unsinn. Es geht nicht um Privilegien für Geimpfte und Diskriminierung von Ungeimpften. (Und wenn Impfgegner den Judenstern bemühen, so ist das geschichtsvergessene Widerlichkeit.) Es geht darum, die Folgen seines Tuns zu tragen. Wer sich nicht impfen lässt, obschon er oder sie es könnte, verweigert selbstbestimmt den Beitrag zur Seucheneindämmung. Und sollte klaglos die Einschränkungen in Kauf nehmen, die das Virus aufzwingt. Wer hingegen geimpft ist und damit den Beitrag leistet, sollte nicht weiter drangsaliert werden.

Die Anwendung des Covid-Zertifikats in Beizen, Clubs, bei Zusammenkünften: Sie ermöglicht die Wiederherstellung der Grundrechte für jene, die weniger Gefahr für andere darstellen. Und hält vorübergehend jene fern, die ihre Selbstbezogenheit höher gewichten als die Solidarität. Die «NZZ» hat diese Zusammenhänge diese Woche überzeugend ausgeführt.

Kurz: Wer das Covid-Zertifikat bekämpft, kämpft nicht für die Freiheit. Er ist bloss zu feige, mit den Konsequenzen seiner Überzeugungen zu leben. Vor allem zwingt er jene in die Unfreiheit, die für die Freiheit tatsächlich etwas tun.

Wo leben wir eigentlich?
Impfskepsis, Impfzögerlichkeit, Impfgleichgültigkeit: Das muss man sich leisten können. Millionen von Menschen auf diesem Planeten wären dankbar, sie würden endlich die Impfung bekommen. Für sie liegt das in weiter Ferne. Bei uns aber gefallen sich Leute, die heute ihren Oberarm hinstrecken könnten für die derzeit bestmögliche Impfung der Welt, im wohlstandsverwöhnten Aufzählen ihrer mannigfachen Vorbehalte. Und sie beklagen ihr angebliches Elend, sie würden ausgegrenzt, benachteiligt, diskriminiert.

Die Epidemie ist ein realer Albtraum. Sich in den Arm kneifen hilft nicht, um ihn zu beenden. Es muss schon ein Stich sein.

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