Editorial zur «Queen of Rock 'n' Roll»
Mit Tina Turner stirbt auch ein Stück der alten Schweiz

Die Sängerin, die mit 83 in Küsnacht starb, steht für eine Seite ihrer Wahlheimat, die heute massiv unter Druck steht.
Publiziert: 28.05.2023 um 00:21 Uhr
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Aktualisiert: 28.05.2023 um 02:13 Uhr
Reza Rafi, SonntagsBlick-Chefredaktor.
Foto: Thomas Meier

Wer derzeit die Seestrasse 180 im zürcherischen Küsnacht passiert, wähnt sich in eine Monarchie versetzt. Vor dem eisernen Tor der Villa Algonquin stehen Trauernde, legen Blumen, Kränze, Briefe nieder. Ist hier eine Königin, eine Würdenträgerin gestorben?

Keine Frage – mit Tina Turner hat die Schweiz einen Weltstar verloren, eine herausragende Figur der Zeitgeschichte. Sie wurde 1939 im US-Bundesstaat Tennessee in eine finstere Epoche von Krieg und Rassentrennung hineingeboren und avancierte später zur «Queen of Rock ’n’ Roll», zur Ikone der globalisierten Popkultur. Ihre Biografie markiert den Weg von der sozialen Unfreiheit zur postmodernen liberalen Gesellschaft. Die energiegeladene Sängerin war ein lebendes Denkmal der Selbstbestimmung, die sie von einer Südstaatenhütte an einen der teuersten Flecken in einem der reichsten Länder der Erde führte.

Was aber betrauern die Leute, die am Zürichsee ihre Aufwartung machen? Nur die Musik, die bekanntlich Geschmackssache ist? Ihr Charisma? Oder was?

Vom Schriftsteller Christian Kracht stammt die Bemerkung, dass man in die Schweiz kommt, um zu sterben. Beispiele gibt es seit Hermann Hesse, Charlie Chaplin und Audrey Hepburn genug. Bei Turner aber stimmt das nicht: Sie kam hierher, um zu leben. Genauer: um so zu leben, wie es ihr zuvor verwehrt geblieben war. Im öffentlich-rechtlichen Radio fiel diese Woche der Satz, Turner habe an ihrer Wahlheimat vor allem «die Diskretion» geschätzt.

Das macht hellhörig. Diskretion galt einst als positive Eigenschaft der Eidgenossen. Im «Asterix»-Comic versteckten sie die beiden Gallier in einem steinernen Safe der Bank von «Vreneli». Mittlerweile ist Diskretion zum Kampfbegriff von Kritikern des Landes geworden. Die «diskrete Schweiz» gilt als Rosinenpickerin, als Nation, die sich wegduckt, die zu wenig für die Jagd auf russische Oligarchengelder tut und bei der Verteidigung der Ukraine zunehmend ins diplomatische Abseits gerät.

Tina Turner hingegen steht für eine vernetzte, weltoffene Schweiz, für eine beliebte Schweiz, für eine Schweiz, in der berühmte Zeitgenossen leben und sterben möchten. Eine Schweiz, in der nicht nur Kapital, sondern auch Kultur, nicht nur Geld, sondern auch Glamour einen sicheren Hafen finden.

Vielleicht wird vor der Villa an der Seestrasse 180 auch ein wenig diese Schweiz betrauert.

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