Editorial zur Erdbebenkatastrophe
Die Hand des toten Mädchens

Die Menschen im Erdbebengebiet sind nicht nur einer Naturkatastrophe zum Opfer gefallen – die Region hätte eigentlich alle Voraussetzungen, um zu blühen.
Publiziert: 12.02.2023 um 00:46 Uhr
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Aktualisiert: 12.02.2023 um 08:15 Uhr
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Mesut Hancer hält die Hand seiner 15-jährigen Tochter Irmak.
Foto: AFP
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Ist ihre Hand noch ein bisschen warm? Oder bereits so kalt wie die eisigen Temperaturen um sie herum?

Das Foto, das am Dienstag in der türkischen Stadt Kahramanmaras geschossen wurde, kann keine Antwort liefern. Es zeigt Mesut Hancer, der auf den Resten eines Wohnhauses kauert und mit leerem Blick seine Tochter Irmak festhält. Das 15-jährige Mädchen hat es nicht geschafft. Es wurde von dem Erdbeben, das am Montag die Südtürkei und Nordsyrien erschütterte, unter Trümmern begraben.

Eltern kennen ihr Kind vom Tag der Geburt, sie erleben die Säuglingsphase, die ersten Schritte, das erste Wort, das es spricht, sie begleiten die Entwicklung seiner Persönlichkeit von der Schulzeit bis zur Pubertät durch alle Höhen und Tiefen.

Der Vater scheint die Gesamtheit dieses erloschenen Lebens in der Hand zu halten, er scheint die Hand aller verstorbenen Kinder zu halten, die unter Backsteinen und Beton begraben liegen. Das Foto wirkt in seiner dramatischen Ruhe wie eine Variante von Michelangelos Pietà, der weltberühmten Marmorskulptur einer trauernden Maria mit dem Leichnam Christi.

Irmak ist eine von mittlerweile mehr als 25'000 geschätzten Toten. Sie sind nicht bloss einer Naturkatastrophe zum Opfer gefallen – die Menschen, die unter dem Gewicht der zusammengestürzten Häuser zerquetscht wurden oder erfroren, zahlen auch die Quittung für einen bitteren Cocktail aus Machtpolitik, Krieg und Armut, der bis zum Zusammenbruch des Osmanischen Reiches zurückreicht.

In Nordsyrien trifft es eine Region, deren Städte 2015 von Putins Jagdbombern zugrunde gerichtet wurden. Im Schraubstock zwischen internationalen Sanktionen und islamistischen Eiferern fand nach den russischen Angriffen lediglich ein brüchiger Wiederaufbau statt, unter Dauersabotage des Assad-Regimes, das wieder einmal seine ethischen Standards offenbart: Noch als Menschen unter dem Schutt um ihr Leben kämpften, beschossen syrische Kampfjets Anfang Woche mitten im Unglücksgebiet die kurdische Stadt Marea. Bis dato dringt internationale Hilfe nur spärlich bis zur Bevölkerung vor, weil der Diktator den verhassten Rebellengebieten misstraut und jeglichen Transfer nur via Damaskus zulassen will. Auf der türkischen Seite der Grenze leidet eine Provinz, die von der Regierung in Ankara als Hinterhof behandelt wird. Hier leben viele Aleviten, Kurden und syrische Flüchtlinge. In dieser Risikozone gab es keine Spur von funktionierendem Katastrophenmanagement, im Gegenteil: Jahrelang sollen die Behörden Gelder für den Erdbebenschutz zweckentfremdet haben, wie Oppositionelle klagen. Korruption und städtebaulicher Wildwuchs sind riskante Voraussetzungen für ein Erdbeben, das laut Geologen zu erwarten war. Den medial inszenierten Besuch von Präsident Erdogan in den zerstörten Orten empfanden viele Betroffene als blanken Hohn.

Getroffen wurde eine extrem geschwächte Infrastruktur. Dabei könnte diese Region am östlichen Mittelmeer mit fruchtbaren Böden, kultureller Vielfalt und geopolitisch bestechender Lage so reich sein, wie sie reich an Geschichte ist: Seit Jahrtausenden blühten dort Zivilisationen, Petrus forcierte von hier aus den Aufbau des Christentums, der Landstrich wurde zu einem der ersten intellektuellen Zentren der neuen Religion. In der Spätantike wetteiferten die Patriarchen von Antiochia – dem heutigen Antakya – mit der Konkurrenz aus Alexandria um die theologische Vormachtstellung in der Welt, während sich im Schweizer Mittelland Menschen, die man im überlegenen Süden einst verächtlich als Barbaren bezeichnete, noch hinter Erdwällen verschanzten.

Heute haben sich die Verhältnisse gedreht. Die wirtschaftliche Macht liegt hier, die Menschen im Gebiet der grössten Zerstörung sind auf unsere Hilfe angewiesen, und vielleicht besteht der einzige Trost ihres Unglücks darin, dass es die Völker verbindende Solidarität zu stärken vermag.

Irmak ist inzwischen bestattet worden. Auf einem neu angelegten, riesigen Friedhofsbereich. Auf ihrem Grab ist nur eine Nummer zu lesen, die Nummer 380.

Opfer der Katastrophe werden in Massengräbern beigesetzt
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