Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Wird die Politik jetzt weniger aggressiv?

Die Dankesreden von Albert Rösti und Elisabeth Baume-Schneider waren deutlich länger und persönlicher gehalten, als dies bei frisch gewählten Bundesratsmitgliedern bislang der Fall war. Zeichnet sich da ein Tonwechsel in der Politik ab?
Publiziert: 11.12.2022 um 01:28 Uhr
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Aktualisiert: 11.12.2022 um 11:07 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Thomas Meier
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Dienstagabend in der Berner Bellevue Bar, die sogenannte Nacht der langen Messer. Der Basler Regierungspräsident Beat Jans ist auf Werbetour für seine Bundesratskandidatin Eva Herzog. Aber selbst Jans räumt ein: Die SP-Ständerätin aus dem Stadtkanton kommt nicht ausreichend sympathisch rüber. Kommunikativ müsse sie zulegen.

So ein Messer kann manchmal in der Hand von jemandem liegen, der eigentlich die besten Absichten hegt.

Denn Kommunikation ist alles bei den Bundesratswahlen 2022. Während sich Simonetta Sommaruga am Mittwochvormittag vom Parlament verabschiedet, feilt Kandidat Albert Rösti unten in den Rängen fleissig am Manuskript seiner Dankesrede. Mit 733 Worten wird sie die längste Ansprache eines frisch gewählten Bundesrats seit Menschengedenken. Christoph Blocher begnügte sich mit 274 Worten, Ueli Maurer mit 229. Der Zugeknöpfteste der letzten 20 Jahre war Hans-Rudolf Merz: Ihm reichten 69 Wörter, um Annahme der Wahl zu erklären.

Elisabeth Baume-Schneider hat zwar keine italienischen und rätoromanischen Sätze zur Hand, als sie sich zum ersten Mal als Bundesrätin ans Parlament wendet. Doch auch so hält sie (mit 675 Vokabeln) den zweitlängsten Vortrag eines neuen Regierungsmitglieds – gleich hinter Rekord-Rösti.

Es sind nicht die staatstragend liturgischen Formeln vom «Brückenbauen» (Baume-Schneider) oder «gegenseitiger Rücksichtnahme» (Rösti), die den Unterschied zu früher machen. Die «tragfähigen Kompromisse» hatte einst auch der Neo-Bundesrat Blocher bemüht. Und Maurer gelobte: «Ich kann Ihnen versichern, dass ich mit ganzer Kraft alles tun werde, um Lösungen für unser Land im Interesse aller, die hier mit uns leben, zu finden.» Rösti und Baume-Schneider benötigen mehr Sprechzeit, weil sie persönlich werden: Sie thematisiert ihren Charme und ihre Schusseligkeit, und vor Rösti hat noch kein Schweizer Magistrat in der Antrittsrede seiner Gattin eine Liebeserklärung gemacht.

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Der Ton in der Schweizer Politik ist in den letzten Jahrzehnten zusehends rauer geworden. Während der Pandemie steigerten sich die innenpolitischen Spannungen dann ins Unerträgliche. Da wäre es bloss allzu verständlich, sollte der vergangene Mittwoch einen bewussten Kontrapunkt markieren. Die Wahl von Albert Rösti und Elisabeth Baume-Schneider, ebenso ihre Auftritte vor dem Parlament: Sind sie ein Bekenntnis der Politik zu mehr Menschlichkeit und gegenseitiger Wertschätzung?

Heute erleben wir, wie sich Russland als Vorkämpfer einer neuen Weltordnung profilieren will – mit tiefgreifenden Folgen auch für unser Land. Nun kommt ein Wahljahr, und es sind gerade die beiden Neuen in der Landesregierung, die besonders exponiert sein werden: Baume-Schneider als Asylministerin mitten in einer historischen Flüchtlingskrise, Rösti als Energie- und Umweltminister mitten in einer Energiekrise, ganz zu schweigen von der Klimakrise.

Darf man nach dem denkwürdigen Mittwoch hoffen, dass die SVP zumindest nicht in dem Mass gegen Elisabeth Baume-Schneider polemisiert, wie sie es gegen die einstige SP-Asylministerin Simonetta Sommaruga getan hat? Umgekehrt wäre es zu wünschen, wenn das rot-grüne Lager davon absieht, jetzt einfach eine plumpe Kampagne gegen die Person von Albert Rösti zu fahren. Und sich stattdessen vertieft mit der Frage auseinandersetzt, wo man weiteres Potenzial beim Ausbau von erneuerbaren Energien sieht – ungeachtet des zu erwartenden Widerstands von Heimat- und Landschaftsschützern.

Doch ist das alles nicht nur eine fromme Fiktion? Am Donnerstag, dem Tag nach der Wahl, terminierte Bundespräsident Ignazio Cassis die Sitzung für die Departementsverteilung zunächst auf 12.30 Uhr, dabei hatte Innenminister Alain Berset zu diesem Zeitpunkt Verpflichtungen im Parlament. In Berset Umfeld sieht man darin eine Machtdemonstration. An der Sitzung selbst verwiesen die vier Bundesratsmitglieder von SVP und FDP die beiden Sozialdemokraten auf ihre Plätze: Berset durfte, obgleich Amtsältester und zum Wechsel entschlossen, nicht Finanzminister werden, Baume-Schneider landete ungefragt im Justiz- und Polizeidepartement.

Zugegeben: Es gibt für die Sozialdemokratie wahrhaftig unattraktivere Departemente. Von der grossen Harmonie am Vortag allerdings war 24 Stunden später schon nichts mehr übrig.

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