Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Tomatenbeete statt Parkplätze!

Wegen Corona wünschen sich mehr Menschen ein Einfamilienhäuschen auf dem Land. Nur: Je mehr Menschen sich nach Grün sehnen, desto weniger bleibt davon übrig. Statt dass jetzt alle aufs Land ziehen, sollten wir besser das Land in die Stadt holen.
Publiziert: 22.08.2020 um 23:28 Uhr
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Aktualisiert: 23.08.2020 um 00:25 Uhr
Gieri Cavelty, SonntagsBlick-Chefredaktor.

Noch gibt es keinen ausgereiften Roman über Corona. Einige Verlage sind trotzdem nicht untätig geblieben. Unter anderem wurden in den letzten Monaten Daniel Defoes literarischer Bericht über den Pestausbruch in London anno 1665 sowie Heinrich Heines Reportagen über die Cholera in Paris 1832 neu herausgebracht. Wer diese Bücher liest, wird im Innersten erschüttert: Die zeitliche Distanz zwischen damals und heute scheint wie aufgehoben.

In Gegenwart der Seuche zeigt die Menschheit im Jahr 2020 die genau gleiche Überforderung, dieselben Überlebensinstinkte und Hoffnungen wie 1665 und 1832.

Bis Corona kam, hielten wir uns für die Krone der Schöpfung. Ebenso wähnten wir uns früheren Generationen überlegen – fortgeschrittener halt, smarter, techno­logisch up to date. Selbstverständlich setzen wir darauf, dass die Wissenschaft die Pandemie in die Schranken weisen wird. Gleichwohl stehen wir heute unter dem Eindruck einer existenziellen Natur­erfahrung. Auch wer Defoe und Heine nicht gelesen hat, weiss nun: Wir befinden uns nicht ausserhalb der Natur, wir funktionieren nicht völlig losgelöst von der Erde.

Dieses neue Naturbewusstsein bleibt nicht ohne Folgen. Es mischt sich mit dem Bedürfnis nach
Beschaulichkeit und Behaglichkeit. Und dann sind da ja noch der Schock des Lockdown und die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten. Alles zusammen führt jetzt dazu, dass mehr Menschen aus den grossen Zentren Ausschau halten nach einem Häuschen im Grünen. Ein neuer Immobilienboom steht vor der Tür, aus­gelöst vom Wunsch nach Einfamilienhäusern auf dem Land, schreiben meine Kollegen Dana Liechti, Tobias Marti und Danny Schlumpf in dieser Ausgabe des SonntagsBlick.

Bloss: Je mehr Menschen sich nach Grün sehnen, desto weniger bleibt davon übrig. Wie wurde die Schweiz in den letzten 60 Jahren mit Strassen und Einfamilienhäusern bereits zer­siedelt und verschandelt. Die Auto­bahn zurück in den Schoss der Natur ist definitiv ein Holzweg.

Statt dass die Menschen massenhaft aufs Land ziehen, sollten wir besser das Land in die Stadt holen.

Welchen Aufwand betreibt beispielsweise Bern, um die Häuser in der Altstadt zu beflaggen! Warum
wird diese Energie nicht dazu verwendet, die Gassen und Strassen und Lauben zu begrünen? Warum gibt es in der Zürcher Innenstadt keine Gemüsegärten, keine Erdbeerpflanzen? Weshalb ist es eigentlich so klar, dass sich überall blaue Zonen für Autos finden, aber keine grünen Zonen für Tomatensträuche, Feigenbäume, Rhabarberstauden? Statt XXL-Parkplätze für SUV plus Zweitwagen braucht es Raum für Beete und Rabatten.

Die Behörden müssten nicht einmal alles selber machen, im Gegenteil. Sie sollten lediglich Interessierten viel Fläche zur Verfügung stellen und reichlich schöne Töpfe. Statt aufs Land
zu ziehen, könnten die Menschen ihr Naturbedürfnis gleich vor Ort befriedigen, als Gärtner in der eigenen Strasse und mitten in der City.

Noch gibt es keinen ausgereiften Roman über Corona. Und Heinrich Heine oder Daniel Defoe hat
man irgendwann auch fertig gelesen. Spätestens dann wäre es an der Zeit, selber kreativ zu werden und unsere Städte zum Blühen zu bringen.

Eine schöne Geschichte wäre das allemal. Spannender und lebhafter jedenfalls als die Sehnsucht nach dem einsamen Glück im Einfami­lienhäuschen auf dem Land.

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