Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Putin mordet, die Schweiz betreibt Neutralitäts-Kult

Vor einem Jahr begann Diktator Putin einen Vernichtungsfeldzug von unvorstellbarer Grausamkeit gegen ein friedliches Nachbarland. Bei einer solchen Verletzung des Völkerrechts kann es keine Neutralität geben.
Publiziert: 19.02.2023 um 00:08 Uhr
|
Aktualisiert: 19.02.2023 um 07:38 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Thomas Meier
Gieri Cavelty.jpg
Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Vor elf Tagen befasste sich der Uno-Sicherheitsrat in New York erneut mit Russlands Krieg gegen die Ukraine. Auch die Schweizer Vertreterin beim höchsten Gremium der Vereinten Nationen ergriff das Wort. Pascale Baeriswyl sagte (auf Französisch): «Die Neutralität der Schweiz steht ausser Zweifel. Es besteht keine Neutralität bei Verletzung des Völkerrechts oder der Uno-Charta.»

New York ist weit weg, und so hat hierzulande bisher niemand Kenntnis genommen von diesem Auftritt. Dabei bedeutet er eine Absage an die Neutralitätspolitik der Schweiz der letzten 30 Jahre.

Nach dem Ende der Sowjetunion diskutierte der Bundesrat intensiv über die künftige Ausgestaltung der Neutralität. Im Jahr 1993 entschied er: Die Schweiz verzichtet nur dann auf ihre Neutralität, wenn der Uno-Sicherheitsrat Massnahmen gegen einen kriegführenden Staat ergreift. Bei Putins Überfall auf die Ukraine versagt dieses Konzept allerdings komplett. Denn durch sein Vetorecht als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats ist Russland vor solchen Resolutionen geschützt. Nichtsdestotrotz befand die Landesregierung an ihrer Sitzung vom 26. Oktober 2022, es gebe keinen Anlass, die Neutralitätspolitik zu überdenken. Man wolle «an der 1993 letztmals festgehaltenen und seither weitergeführten Praxis der Neutralität festhalten».

Aufgrund dieses Beschlusses bleibt die Schweiz im Krieg gegen die Ukraine offiziell neutral. Sie beteiligt sich zwar an den Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland – anders als die neutralen Staaten Österreich und Irland jedoch schickt Bern nicht einmal Schutzwesten und Helme nach Kiew. Gleichfalls verboten hat der Bundesrat, dass andere Länder in der Schweiz erworbenes Kriegsmaterial an die Ukraine weitergeben.

Wie ist da die Aussage von Botschafterin Baeriswyl zu deuten, es bestehe «keine Neutralität bei Verletzung des Völkerrechts oder der Uno-Charta»? Ignazio Cassis hat im vergangenen Herbst tatsächlich versucht, die Neutralität der Schweiz genau in diesem Sinne neu zu definieren – doch der Gesamtbundesrat wollte davon nichts wissen und liess den Aussenminister auflaufen. Auf Anfrage von SonntagsBlick verlautet jetzt aus dem Aussendepartement, Pascale Baeriswyl habe mit dem Begriff «Neutralität» lediglich «Gesinnungsneutralität» gemeint. Demnach hätte es sich beim – sorgfältig ab Blatt vorgelesenen – Statement der Schweizer Repräsentantin im Weltsicherheitsrat um einen Versprecher gehandelt. Bekundet am Ende ausgerechnet unsere wichtigste Diplomatin Mühe mit der Diplomatensprache Französisch?

Vor einem Jahr begann Diktator Putin einen Vernichtungsfeldzug von unvorstellbarer Grausamkeit gegen ein friedliches Nachbarland, bei dem laut Schätzungen bislang weit über 100 000 Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Leben verloren. Was in Europas Osten geschieht, ist versuchter Völkermord – in Putins Augen ist alles Ukrainische «nazistisch» und muss ausgerottet werden.

Die Schweizer Bevölkerung zeigt enorme Anteilnahme am Schicksal der Opfer und entsprechend grosse Hilfsbereitschaft. Derweil präsentiert sich die offizielle Schweiz als eine Art Schutzpatronin des zivilen Lebens in der Ukraine; im internationalen Vergleich übersteigt die humanitäre Unterstützung aus Bern jene aus anderen Ländern aber keineswegs. Vermutlich besteht der bedeutendste Beitrag der Eidgenossenschaft zur Stärkung der Ukraine darin, dass in der Vergangenheit viele Milliarden russischer Gelder nicht in die Modernisierung von Putins Streitkräften flossen, sondern auf Bankkonten in Zürich, Genf, Lugano.

In manchen Ohren klingt ein solcher Satz vielleicht zynisch. Wirklich zynisch freilich ist es, welchen Kult die Schweizer Politik seit dem 24. Februar 2022 um die Neutralität veranstaltet. Mit seiner Weigerung, die Neutralitätspolitik neu auszurichten, hat der Bundesrat nicht einfach nur seinen Aussenminister desavouiert, sondern auch einen historischen Fehler begangen. Das Parlament ist derzeit daran, diesen Entscheid wenigstens teilweise zu korrigieren: Es will anderen Ländern erlauben, Schweizer Rüstungsgüter an die Ukraine zu liefern.

Auch das Votum von Pascale Baeriswyl muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Denn selbstverständlich ist ihr in New York kein Versprecher unterlaufen. Ihre Erklärung zur Neutralität war zwar an ein internationales Diplomatenpublikum gerichtet – sie sollte aber vor allem als Beitrag zur innenpolitischen Debatte verstanden werden. Ja, bei einer solchen Verletzung des Völkerrechts darf es keine Neutralität mehr geben.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?