Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Die verlogene Zuwanderungsdebatte

Probleme können erst gelöst werden, wenn man sie richtig benennt. Für eine konstruktive Auseinandersetzung ist «Zuwanderung» häufig ein viel zu diffuser Begriff.
Publiziert: 30.04.2023 um 00:12 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2023 um 12:01 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Thomas Meier
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Erinnern Sie sich noch an 2014? Es war die Zeit, als die Züge immer voll waren, Dichtestress herrschte und Deutsche den Einheimischen sämtliche Arbeitsplätze wegschnappten. «Die Leute regen sich auf, weil zu viele Deutsche im Land sind», erklärte eine SVP-Nationalrätin im Fernsehen. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger verschafften sich Luft und sagten Ja zur «Masseneinwanderungs-Initiative». Danach hörte man von der Zuwanderung nicht mehr so viel.

Im Wahljahr 2023 ändert sich das wieder. Immerhin hat die Zahl der deutschen Staatsangehörigen in der Schweiz seit 2014 um ungefähr 15 000 zugenommen, 58 000 wurden eingebürgert. Mit den Zügen verhält es sich so: Nach einem pandemiebedingten Einbruch hat das Passagieraufkommen wieder das gleiche Niveau erreicht wie vor zehn Jahren. Gemäss Angaben der SBB liegt die durchschnittliche Sitzplatzbelegung bei 23,9 Prozent.

Doch halt! Über die Deutschen und die überfüllten Züge spricht heute ja gar niemand. Im Zentrum der aktuellen Zuwanderungsdebatte steht die Wohnungsnot, ein Aspekt, der 2014 lediglich am Rande Erwähnung fand. Dabei gab es in der Schweiz damals weniger leer stehende Wohnungen: 45 355 waren es am 1. Juni 2014, 61 496 am gleichen Tag im letzten Jahr. Die sogenannte Leerwohnungsziffer lag damit 2014 bei 1,07 Prozent, 2022 bei 1,31 Prozent. 1990 waren es übrigens 0,44 Prozent, zu jener Zeit wurden 13 509 freie Wohnungen gezählt.

Es geht an dieser Stelle keineswegs darum, die Sorgen der Menschen kleiner zu machen, als sie sind. Allerdings können Probleme erst dann gelöst werden, wenn man sie richtig benennt. Und für eine konstruktive Auseinandersetzung ist «Zuwanderung» nun einmal häufig ein allzu diffuser Begriff.

Unbestritten ist, dass die Schweiz seit Jahren eine der höchsten Einwanderungsquoten in Europa verzeichnet. Und ja, in viel zu vielen Quartieren der Stadt Zürich gibt es für Normalverdienende keine Wohnungen mehr – so wie dies in Richterswil am Zürichsee schon früher der Fall war. Bloss: Wäre es in diesem Zusammenhang nicht zielführender, beispielsweise über die Privilegien einkommensstarker Personen zu sprechen als über Zuwanderung?

Tatsächlich jedoch wird das Thema Wohnen nur dann richtig emotional diskutiert, wenn es um die Unterbringung von Flüchtlingen geht. Wer sich in den sozialen Medien umschaut, bekommt zuweilen auch den Eindruck, dass «Wohnungsnot» für manche ein Codewort ist, um ungestört Vorbehalte gegenüber den Schutzsuchenden aus der Ukraine äussern zu können.

Gewiss dürften 2023 mehr Flüchtlinge in die Schweiz kommen als in den paar Jahren zuvor. Aber diese Art von Zuwanderung zu verkraften, ist in erster Linie eine Frage der Ressourcen. Vor allem gefordert ist hier der Bund: Er muss Kantonen wie Gemeinden zeigen, dass er sie nicht allein lässt. Freilich ist absehbar, dass die Debatte einen anderen Verlauf nehmen wird: Die SVP gibt den Ton vor, andere Parteien werden sich unter Zugzwang fühlen und ihrerseits ganz viele Ideen für eine Verschärfung der Asylpraxis präsentieren. Wetten, dass auch ausserhalb der SVP bald schon die Forderung zu hören sein wird, die Schweiz solle Asylzentren in afrikanischen Ländern betreiben? Ein Vorschlag, der in der Praxis noch nie funktioniert hat; kürzlich erst hat Dänemark die Pläne für ein solches Zentrum in Ruanda auf Eis gelegt.

Andere Facetten der Zuwanderung wiederum fallen ganz unter den Tisch. Von den 40 000 Ärztinnen und Ärzten, die 2022 hierzulande praktizierten, hatten knapp 15'800 ein ausländisches Diplom. Laut Ärztedachverband FMH weist unser Land nach Israel den zweithöchsten Ausländeranteil in der Ärzteschaft aus. Gleichzeitig gilt für alle, die in der Schweiz die Matura absolviert haben und ein Medizinstudium beginnen möchten, ein strenger Numerus clausus. Vor zwei Jahren diskutierte der Nationalrat über eine Abschaffung dieser Zulassungsbeschränkung. Dreimal dürfen Sie raten, wer sich dagegen stemmte. Genau: jene Politiker, die sich am lautesten über die Zuwanderung empören.

2014 erhitzten sich die Gemüter an der Zuwanderung, 2023 erhitzen sich die Gemüter an der Zuwanderung. Und so, wie die Probleme unseres Landes angegangen werden (oder wie man lautstark nach Sündenböcken sucht), steht bereits heute fest: Die nächste fruchtlose Zuwanderungsdebatte kommt bestimmt.

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