150'000 Männer unter Waffen. Propagandalügen. Brandstiftungen. Übergriffe auf Frauen. Und das nicht irgendwo: Vor genau 175 Jahren, zwischen dem 3. und dem 29. November 1847, tobte hierzulande der Sonderbundskrieg. Sieben katholisch-konservative Kantone unter der Führung des Luzerner Regierungsrats Constantin Siegwart-Müller kämpften für eine Konföderation unabhängiger Gottesstaaten – die Liberalen auf der anderen Seite für eine moderne Staatsform.
Der Sonderbundskrieg gehört zu den wichtigsten Ereignissen in der Geschichte der Eidgenossenschaft. Erst der Sieg der liberalen Partei ermöglichte die Gründung des heutigen Bundesstaates. Aus nachvollziehbaren Gründen gab sich die Politik in späteren Jahren gleichwohl grösste Mühe, den Krieg aus der Erinnerungskultur zu verbannen. Nicht das Trennende sollte betont werden, sondern das Einigende. Rütlischwur und Wilhelm Tell, Symbole freiheitlicher Ideale wie traditioneller Werte, haben in der Tat geholfen, die Wunden von einst zu heilen. Im Herbst 2022 jedoch lohnt sich der Rückblick aufs Jahr 1847 in vielerlei Hinsicht.
Historiker betonen, dass die Feindseligkeiten verhältnismässig glimpflich verliefen: 93 Soldaten fanden den Tod, 510 wurden verletzt. Der US-Geschichtsprofessor Joachim Remak zog in den 1990er-Jahren den Vergleich zum amerikanischen Sezessionskrieg, der ungefähr zur gleichen Zeit 600'000 Menschenleben kostete: «Das heisst, dass jeder fünfzigste Amerikaner starb, während in der Schweiz ein Toter auf 24'000 Einwohner kam. Dabei war der Hauptgrund des Krieges – die Wahrung der Einheit des Bundes – der gleiche.»
Alle Geschichtsschreiber des Sonderbundskriegs streichen die Rolle von Guillaume Henri Dufour heraus. Der Oberbefehlshaber der liberalen Streitkräfte hatte den Auftrag, den Gegner zu bezwingen, nicht zu vernichten. Bei seiner Ernennung zum General versprach Dufour: «Niemals werde ich von den Grenzen der Mässigung und Menschlichkeit abweichen.» Dennoch musste er nach den erfolgreich geschlagenen Schlachten selber einräumen: «Der Sonderbundskrieg blieb nicht frei von Exzessen.»
Überhaupt war der Krieg lediglich der Endpunkt einer langjährigen Krise. In den Jahren zuvor war es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen. So zogen im März 1845 mehrere Tausend Liberale von den Kantonen Bern und Aargau aus nach Luzern, um die dortige Regierung zu stürzen. Über 120 Menschen fanden den Tod.
Ja, es ging um Ideologien, Ideen und Identitäten. Verständlich wird das Geschehen aber nur vor dem historischen Hintergrund. Die Eidgenossenschaft von damals war eine Ansammlung winziger Staaten mit je eigenem Münz-, Post- und Zollwesen. Durch diesen kantonalen Flickenteppich pflügte die Industrialisierung – mit Volldampf und einem schwindelerregenden Tempo. Leben, Arbeiten, Handel wurden schneller, die Welt entsprechend kleiner. Und die Schweiz zerfiel in ein Lager des Fortschritts und eines der Angst.
Zugleich musste ganz Europa in der zweiten Hälfte der 1840er-Jahre wirtschaftlich unten durch. Eine Reihe schlechter Ernten führte zu «Lebensmittel- und Geldnoth». Und wie die «NZZ» im März 1847 wusste: «Wo Hunger und Mangel mitwirken, da ist am Ende alles möglich.» Im Grunde war es diese existenzielle Erschütterung in einer ohnehin turbulenten Zeit, die bei uns einen Bürgerkrieg und in den Nachbarländern Frankreich, Deutschland, Österreich Aufstände gegen die Obrigkeit zur Folge hatte.
Ein Strukturwandel, der weltweit zu tiefen politischen Gräben führt, zu Verlustängsten, politischem Fanatismus, zur hasserfüllten Suche nach Sündenböcken. Obendrein eine Inflation, die vielen Familien den Boden unter den Füssen wegzieht: Das klingt für unsere Ohren leider allzu vertraut. Gewiss stehen wir im Herbst 2022 ungleich komfortabler da als vor 175 Jahren. Auch geht es der Schweiz immer noch weit besser als anderen Staaten. Trotzdem sollte uns die Geschichte lehren, dass diese relative Ruhe keine Selbstverständlichkeit ist. Und dass wir dem Geschehen in der Welt nicht gleichgültig gegenüberstehen dürfen.