Editorial über den Fall Stäfa und die Schule im Schraubstock
Ein Schmierentheater

Der Polemik um den abgesagten «Gender-Tag» in Stäfa ZH sagt vor allem etwas über die Schweizer Volksschule aus, die sich im Schraubstock der gesellschaftlichen Interessen befindet.
Publiziert: 14.05.2023 um 11:00 Uhr
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Aktualisiert: 14.05.2023 um 11:16 Uhr
Reza Rafi, Chefredaktor SonntagsBlick
Foto: Thomas Meier
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Vergangene Woche wurde der Öffentlichkeit ein Schmierentheater vorgeführt, das ziemlich viel über unsere Gegenwart aussagt. In den Hauptrollen: unbedarfte Pädagogen, zynische Politiker – und das Reizwort unserer Tage: Gender!

Schauplatz war Stäfa, ein gemütliches Städtchen, gelegen an einer alten Handelsroute am oberen Zürichsee, die zu einem bis heute sichtbaren Reichtum führte. Einst machte Goethe dort Rast, kurz nachdem sich die stolzen Bürger im «Stäfnerhandel» gegen die Stadtzürcher Übermacht aufgelehnt hatten. 1845 wurde in Stäfa die «Zürichsee-Zeitung» gegründet, bis sie im Zuge der Medienkonzentration 2016 das Seeufer wechselte. Statt der Redaktion stehen dort heute Luxuswohnungen.

In jener Gemeinde also wollten Schulsozialarbeiter für die «Schüler*innen» der Oberstufe einen «Gender-Tag» organisieren, bereits den zehnten, laut den Machern mit harmlosem Programm.

Doch das Sternchen-Thema erregt verlässlich die Gemüter. Denn hüben wie drüben ruft die Debatte selbst ernannte Sittenwächter (sorry: Sittenwächter*innen) mit calvinistischem Eifer auf den Plan.

Instinktsicher griff der Stäfner «Weltwoche»-Journalist Christoph Mörgeli den Fall auf. Nun ist das Problem nicht dessen Artikel, sondern die unkontrollierbare Empörungsmaschinerie, die daraufhin anlief. Ein verhaltensauffälliger SVP-Nationalrat aus dem Aargau forderte kurzerhand die Entlassung der Schulleitung und tat, was er offenbar gerne tut: Er stellte die private Handynummer einer Schulmitarbeiterin ins Netz. Nach Morddrohungen und Krankheitsausfällen mussten die Verantwortlichen die Übung abbrechen.

Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Volksschule im gesellschaftlichen Schraubstock. In den Klassenzimmern arbeiten Heldinnen und Helden. Sie haben es mit aufmüpfigen Eltern zu tun, die ihre Brut für hochbegabt halten und deren Erziehung an die Allgemeinheit delegieren, mit einer Tiktok-verführten Teenager-Generation und mit den Erwartungen des Zeitgeists – hätte man den «Gender-Tag» anders genannt, wäre das Debakel wohl ausgeblieben.

Fast könnte man sich fragen, wer so wahnsinnig ist und beruflich ins Schulwesen wechselt.

Wer genau diesen Wechsel gerade vollzieht, ist Gieri Cavelty. Nach sechs Jahren als Chefredaktor des SonntagsBlicks hat er sich dazu entschieden, künftig Geschichte an einem Gymnasium zu unterrichten. Der studierte Historiker ist ein «Animal politique», wie man Woche für Woche an seinen sorgfältig formulierten, zuweilen messerscharfen Analysen ablesen konnte.

Er wird als ein Journalist in die Annalen eingehen, der den SonntagsBlick zurück in die Relevanz geführt hat. Preisgekrönte Recherchen über Waffenexporte und IV-Ärzte fallen ebenso in seine Ära wie klassische Scoops: Albert Rösti verkündete hier seinen Abgang als SVP-Präsident, Gianni Infantino wurde als Wahl-Katarer überführt.

Für all dies gebührt Cavelty grosser Dank. Als sein Nachfolger wünsche ich ihm alles Gute bei seiner neuen Tätigkeit.

Übrigens: Eine wichtige journalistische Station von ihm war die «Zürichsee-Zeitung» in Stäfa.

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