Editorial über Bersets Treffen mit Selenski
Die Ukrainer brauchen keine Belehrungen von uns

Viola Amherd muss sich mit Symbolpolitik begnügen, Alain Berset doziert und erklärt – der Bundesrat ist in der diplomatischen Kleinkrämerei gefangen.
Publiziert: 04.06.2023 um 00:31 Uhr
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Aktualisiert: 04.06.2023 um 11:05 Uhr
Reza Rafi, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Thomas Meier

Am Freitag war der Schweizer Presse ein bemerkenswerter Satz zu entnehmen. Bemerkenswert deshalb, weil er mit jeder Wiederholung absurder tönt: «Berset erklärt Selenski die Neutralität.»

Zum einen stellt sich die Frage, wie man einem ausländischen Staatschef ein Prinzip vermitteln will, von dem es mindestens so viele Auslegungen gibt wie politische Parteien. Vor allem aber: Ist der Schweizer Bundespräsident wirklich der Richtige, um dem Präsidenten der Ukraine, dessen Mitbürgerinnen und Mitbürger täglich mit dem Einschlag russischer Raketen rechnen müssen, irgendetwas zu erklären? Was berechtigt den Abgesandten der Eidgenossenschaft, einer Nation Belehrungen zu erteilen, die täglich Kriegsterror erlebt?

Schauplatz der Begegnung war die Republik Moldau, ein Kleinstaat zwischen Rumänien und der Ukraine, der derzeit arg in russische Bedrängnis kommt und wo sich am Donnerstag die europäischen Regierungschefs zum Anti-Putin-Gipfel trafen. Russlands mittlerweile 15 Monate andauernder Feldzug hat die westliche Allianz bestärkt, den transatlantischen Graben verkleinert und die Mitgliederzahl der Nato vergrössert. Der politische Bourgeois Berset hingegen vertritt eine Regierung im Korsett der diplomatischen Kleinkrämerei, ein Siebnergremium, in dem die Walliserin Viola Amherd einsam jeden noch so winzigen Spielraum auszuschöpfen versucht – dank ihres Einsatzes kann die Schweiz nun 25 ausrangierte Panzer entbehren; im Übrigen muss sich die VBS-Vorsteherin mit Symbolpolitik begnügen – zum Beispiel mit einem Friedensappell auf dem Times Square vor zwei Wochen.

Vielleicht mögen Amherd und Berset einander, vielleicht kämpfen sie ansonsten Seite an Seite, aber hier fand in den vergangenen Tagen eine Art Fernduell der beiden neutralitätspolitischen Flügel in der Regierung statt: In New York die sichtlich bemühte Amherd, in Südosteuropa der geschmeidige Meistertaktiker Berset, der im März mit seinen Äusserungen gegen Waffenhilfe für Kiew jegliche Kritik von rechts verstummen liess.

Zu Bersets Ehrenrettung sei festgehalten, dass die Formulierung, wonach er Selenski die Neutralität erklärt habe, nicht aus seiner Küche stammt. «Das Gespräch war sehr interessant», verriet er auf SRF über den Austausch in Chisinau. Ob er Selenski auch vom «Kriegsrausch» erzählt hat, den er hierzulande wahrgenommen haben will, ist nicht bekannt.


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