Wir dachten, wir hätten die Pandemie im Griff. Jetzt müssen wir uns frustriert eingestehen: Sie hat uns im Griff. Wieder.
Gestern der dramatische Höhepunkt einer ernüchternden Woche: 3105 neue Corona-Fälle, Positivitätsrate 14,4 Prozent, immer mehr Erkrankte in den Spitälern. «Ein Schock», nennt es Martin Ackermann, Präsident der Covid-19-Taskforce. «Wenn wir nicht handeln, haben wir in zwei Wochen 12'000 Neuinfektionen pro Tag.» Der Winter, die Lieblingssaison des Virus, hat nicht einmal begonnen.
Wir sind zurückgeworfen. Nichts ist überstanden. Wir sind wieder mittendrin. Und wir finden es unfair: Nach all den Bemühungen und Entbehrungen der letzten Monate! Gehts wieder von vorn los? Herbst im Lockdown? Weihnachten in Quarantäne? Echt jetzt, es reicht.
Weniger Angst, mehr Ungeduld
Die Lage ist bedrohlich wie in der ersten Welle, doch unser Befinden ist anders: Heute ist das vorherrschende Gefühl nicht Angst, es ist Ungeduld.
Das Virus fordert zwar viele Tote, weltweit bereits über eine Million. Die Bilder der Leichen auf Militärlastwagen in Bergamo und Gabelstaplern in New York vergisst man nicht. Aber die wenigsten von uns kennen Dramen aus persönlicher Betroffenheit in Familie oder Freundeskreis. Bei aller Ungewissheit wissen wir nun immerhin, dass viele Infektionen erträglich verlaufen. Dass die Behandlungsmethoden verbessert werden konnten. Dass noch nie in der Geschichte der Menschheit so aufwendig nach einem Impfstoff geforscht wurde, der ein Ende verspricht.
Corona ist trotz des Leids, das es weltweit anrichtet, nicht mehr das übergrosse Schreckgespenst, das uns erstarren lässt. Das ist gut so. Denn nur mit Gelassenheit und Zuversicht kommen wir voran. Die Entdämonisierung der Seuche ist aber auch gefährlich. In trübseligen Fällen führt sie zu Ignoranz. Sie wird mit Entwarnung verwechselt, verleitet zu Verharmlosung und Bequemlichkeit, gegen die bekanntlich niemand gefeit ist. Und plötzlich gibt es wieder zu viele Fälle, zu viele schwere, zu viele für das Gesundheitssystem.
Was jetzt entscheidend ist
Für viele von uns ist Corona vom Angstmacher zum Ärgernis geworden. Corona nervt. Dieses unsägliche Virus diktiert den Alltag, zwingt uns lästige Verhaltensweisen auf, und man möchte, bitte sehr, gern auch wieder mal über etwas anderes reden als Corona, Corona, Corona. Es reicht.
Genug hat man auch vom Wirrwarr, den die Behörden anrichten. Diese Woche hat fast jeder Kanton eigene Masken- und andere Vorschriften erlassen. Hier gilt etwas anderes als dort, nur der Föderalismus gilt überall. Kein Wunder, wird uns auf dem fliegenden Flickenteppich schwindlig.
Doch so ärgerlich und befremdlich die Unübersichtlichkeit all der Beschlüsse, Aussagen, Vorschriften, Empfehlungen, Expertenstimmen ist – entscheidend ist etwas anderes. Entscheidend sind wir selber.
Eines der berühmtesten Experimente der Wissenschaft ist der Marshmallow-Test aus den späten 60er-Jahren. Einem Kind wird ein Stück Schaumzucker vorgesetzt, und es hat die Wahl: Entweder isst es das Marshmallow sofort, oder es widersteht der Versuchung für einige Minuten und erhält zur Belohnung ein zweites.
Willenskraft, geht doch
Corona ist der Marshmallow-Test für Erwachsene. Wie gern würden wir sofort ins süsse alte Leben reinbeissen. Weg mit der Maske, her mit der Party! Die Undisziplinierten, Fahrlässigen, Verantwortungslosen tun das auch.
Aber wir müssen der Verlockung widerstehen. Wenn Kinder sich zusammenreissen können – viele bewiesen im Test Willenskraft –, dann können wir Erwachsene das auch. So schwer ist Selbstdisziplin und Selbstverantwortung nicht. Durchbeissen statt Reinbeissen. Denn es ist offensichtlich: Der Preis für den kurzzeitigen Leichtsinn sind Menschenleben, Wirtschaftskollaps, Desaster. Die Belohnung fürs Durchhalten hingegen ist unschätzbar grösser als ein zweites Marshmallow.