Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Wie die Sprache unser Leben bestimmt

Kübra Gümüsay variiert in ihrem Buch den berühmten Marx-Satz: Es ist die Sprache der Menschen, die ihr Sein, und nicht nur ihr gesellschaftliches Sein, das ihre Sprache bestimmt.
Publiziert: 01.02.2020 um 13:48 Uhr
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Aktualisiert: 04.02.2020 um 09:22 Uhr
Daniel Arnet, Redaktor SonntagsBlick Magazin.
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Meine Partnerin spricht stets schweizerdeutsch mit mir. Doch wenn sie mit ihrer Mutter telefoniert, dann redet sie türkisch. Und wenn ich ihr zuhöre, ohne den Inhalt der Worte zu verstehen, dann spüre ich eine andere Person: Stimmlage, Redegeschwindigkeit – oftmals auch die Lautstärke – unterscheiden sich von der schweizerdeutsch sprechenden Frau.

«Menschen, die in zwei oder mehr Sprachen zu Hause sind, berichten oft davon, dass sie in jeder der Sprachen eine andere Persönlichkeit haben», schreibt die Deutschtürkin Kübra Gümüsay (31) in ihrem eben erschienenen Sachbuch «Sprache und Sein». «Ist das möglich?», fragt sie sich, «erwerben wir gar, wie es ein tschechisches Sprichwort besagt, mit jeder Sprache, die wir erlernen, eine neue Seele?»

Gümüsay – als Enkelin eines türkischen Gastarbeiters in Hamburg zur Welt gekommen, von ihm als Kind erste arabische Worte erlernt, später Politikwissenschaften in London studiert – hat für jede Lebenslage eine Sprache: «Türkisch ist für mich die Sprache der Liebe und Melancholie. Arabisch eine mystische, spirituelle Melodie. Deutsch die Sprache des Intellekts und der Sehnsucht. Englisch die Sprache der Freiheit.»

«Welcher Reichtum!», möchte man ausrufen. Doch eine sprachmächtige Person ist noch lange nicht Königin. «Es lässt tief blicken, wenn ich beobachte, welchen Wert wir welcher Sprache beimessen», schreibt Gümüsay. Denn es gibt Sprachen, deren Existenz in Frage gestellt ist. Und es gibt Existenzen, die in einer Sprache in Frage gestellt sind. In «Sprache und Sein» erörtert die frühere «TAZ»-Kolumnistin und regelmässige «Zeit»-Autorin diese beiden Aspekte aufschlussreich.

Zum Wert der Sprachen: Gümüsay stellt die scharfsinnige Frage, was wir uns vorstellen, wenn wir das Stichwort «bilingue» hören. Deutsch und Swahili? Deutsch und Kurdisch? Oder doch eher Deutsch und Französisch beziehungsweise Deutsch und Englisch? «Sprachen mit Prestige», schreibt Gümüsay, «Sprachen, die sich gut machen im Lebenslauf, in der Wirtschaftswelt, im Arbeitsleben.»

Als sie 14-jährig in der Schule über Berufswünsche spricht und Bewerbungen übt, kommt Gümüsay bei der Anleitung zum Lebenslauf auf den Punkt «Sprachkenntnisse»: «Deutsch, Englisch, Latein, tippe ich in den Computer. Und Türkisch? Sollte ich meine Muttersprache auflisten?» Gümüsay entscheidet sich dagegen, denn wie sagte schon ihre Lehrerin in der Grundschule: «Türkisch wird hier nicht gesprochen.»

Zum Wert der Sprechenden: «Und was passiert mit Menschen, die eine Sprache sprechen, in der sie als Sprechende nicht vorgesehen sind?», fragt Gümüsay. Obwohl sie die deutsche Sprache perfekt beherrscht, was nicht zuletzt dieses elegant geschriebene Buch beweist, ist die Feministin und bekennende Muslima immer wieder sexistischen und rassistischen Hasskommentaren ausgesetzt. Hätte Gümüşay einen deutschen Namen, wäre sie ein Popstar. Denn Gümüsay heisst auf Deutsch Silbermond.

Kübra Gümüsay, «Sprache und Sein», Hanser Berlin

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