Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Vom Swimmingpool in die Öllache

«Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen», schrieb der Schweizer Schriftsteller Max Frisch 1965 angesichts der italienischen Gastarbeiter. Die US-iranische Autorin Dina Nayeri beschreibt, was es für einen geflüchteten Menschen bedeutet, nicht arbeiten zu dürfen.
Publiziert: 01.09.2020 um 07:49 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2020 um 10:54 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Auf Seite 36 dieses Buchs hätte ich den Vater der Autorin gebraucht. Dort schreibt Dina Nayeri (41), wie sie während ihrer Kindheit im Iran mit ihrem Baba zusammensass und Pistazien ass. Angeregt davon, hole ich mir solche Nüsse – und beisse mir prompt eine Ecke an einem lädierten Stockzahn aus. «Er war einer der besten Zahnärzte in Isfahan», schreibt Nayeri ein paar Seiten später über ihren Vater.

Vater Zahnarzt, Mutter Ärztin: Die Nayeris waren mit Tochter und Sohn eine angesehene Familie im nachrevolutionären Iran der 1980er-Jahre. «In Isfahan hatten wir gelbe Rosenbüsche, einen Swimmingpool», erinnert sich Nayeri. «Mitten in unserem Wohnzimmer stand eine gläserne Vitrine, in der ein Baum wuchs.» Doch 1985 tritt die Mutter dem Christentum bei – ein Todesurteil im Mullah-Staat: Sie flieht mit den Kindern über Dubai und Rom nach Oklahoma, mitten in den USA.

Die reichen und angesehenen Nayeris werden mittellose und bittstellende Flüchtlinge. «In Oklahoma lebten wir in einer Wohnanlage für Sozialfälle», schreibt Dina Nayeri. «Das Leben bestand aus einem grossen grauen Parkplatz voller Öllachen und Zigarettenkippen, Kindern, die in der drückenden Hitze herumlungerten, Lehrer, die nichts von Mathematik verstanden.» Denn schon im Iran bewies die kleine Dina grosses Talent im Rechnen.

Da klingt es wie Hohn, wenn ihr eine Frau in einer Kirche von Oklahoma sagt: «Ich kann das gut verstehen. Sie kamen her, weil Sie ein besseres Leben wollten.» Nayeri dachte, sie falle in Ohnmacht: «Ein besseres Leben?» Und dafür sollte sie auch noch dankbar sein? Doch wenn man in der Dritten Welt geboren wurde und es wage, sich auf den Weg zu machen, bevor man vernichtet werde, so Nayeri weiter, dann seien die eigenen Träume verdächtig.

Ein leidender Fremder, der sich nach einem menschenwürdigen Leben sehne, werde mit dem Begriff «Wirtschaftsflüchtling» beschämt, den sich ein Privilegierter ersonnen habe. «Hätten die Kinder der Privilegierten derartige Wünsche, würden sie es als ‹Motivation› und ‹Unternehmergeist› bezeichnen.» Den bewies auch die geflüchtete Dina Nayeri: Sie studierte an der Princeton University, erwarb den MBA der Harvard University, lebt heute in Paris und ist eine international gefeierte Autorin mit Romanen wie «Ein Teelöffel Land und Meer» oder «Drei sind ein Dorf».

«Der undankbare Flüchtling» ist ein Aufruf, in Migranten Menschen und nicht bloss lästige Schmeissfliegen zu erkennen. «Der Diskurs ist feindlicher geworden, er hat sich verschärft», so Nayeris Fazit über die aktuelle Flüchtlingsdiskussion. Sie tue sich schwer damit, in den aufgebrachten Horden die freundlichen Menschen wiederzuerkennen, die Amerikaner, Engländer und Italiener, die ihr damals halfen und sie bei der Hand nahmen. «Ich weiss aber, dass es sie noch immer gibt», so Nayeri.


Dina Nayeri, «Der undankbare Flüchtling», Kein & Aber; das Buch erscheint am
1. September


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