Einen Fünfliber kostete mich die Single 1976 – hart erspartes Sackgeld damals. Sie ist eine meiner ersten Vinylplatten, und ich besitze sie noch heute. Auf dem Cover steht schlicht «Music» in Magenta und Cyan, daneben in Schwarz-Weiss und James-Dean-Pose der Sänger John Miles (heute 71). Die Anfangszeilen seines Songs verstand ich noch vor der ersten Stunde Englischunterricht: «Music was my first love / and it will be my last.»
Musik ist wohl auch die erste und letzte Liebe von Colm Boyd (40). Der irische, in Barcelona (Spanien) lebende Musikblogger berichtet auf www.picnicenglish.com regelmässig über Poptexte und neueste Musikveröffentlichungen. Ende 2019 veröffentlichte er sein viel beachtetes «Book of Songs», das nun in deutscher Sprache vorliegt: Gut 500 Songs – von Blues bis Rap, von Amy Winehouse bis Led Zeppelin, von «Angie» bis «Zebra» – bündelt Boyd in 70 Listen für jede Lebenslage.
«Songs über Essen», «Sexy Songs», «Songs über den Tod»: Jeder Mensch, der Ohren hat, um zu hören, wüsste einen passenden Titel zu nennen. Jeder, mit dem Boyd über sein Buchprojekt sprach, bombardierte ihn denn auch mit Vorschlägen. So setzte er auf Teamarbeit mit seiner Lektorin und den Musikfans seines Blogs. «Die Lieder, die es schliesslich in dieses Buch geschafft haben, sind sehr unterschiedlich», schreibt Boyd. «Manche überzeugen durch die Komposition, bei anderen ist der Songtext Literaturnobelpreis-verdächtig.»
«Hello darkness, my old friend / I’ve come to talk with you again», lautet der poetische Anfang von Simon & Garfunkels «The Sound of Silence», den Boyd im Kapitel «Kultige erste Zeilen» listet. Manche Songs wie dieser sind wahre Gedichte. Andere sind von Romanen inspiriert (Kate Bushs «Wuthering Heights») oder in Romanen verewigt («Norwegian Wood» von den Beatles in Haruki Murakamis Roman «Naokos Lächeln»).
Spätestens seit 2016, als Bob Dylan (79) den Literaturnobelpreis bekam, dürfte jeder und jede die poetische Kraft von Poptexten erkannt haben. Dieses Buch bietet die Möglichkeit, sich lesend auf die sprachliche Ebene englischer Songs einzulassen, die uns im deutschen Sprachraum durch das blosse Zuhören meist verborgen bleibt. Oder wussten Sie, dass «Daniel» in Elton Johns (73) gleichnamigem Song nur deshalb nach Spanien ausfliegt, weil sich «plane» (Flugzeug) auf «Spain» (Spanien) reimt?
Doch Songs ohne Ton sind wie Bilder ohne Farbe: Bei aller literarischen Qualität darf die Musik nicht zu kurz kommen. Deshalb kann man sich mit einem Code über Spotify alle beschriebenen Songs aus dem Buch anhören – damit das Motto auf den ersten Seiten voll zum Tragen kommt: «Worte lassen dich denken, Musik lässt dich fühlen, und ein Song lässt dich einen Gedanken fühlen», zitiert Boyd dort den US-Texter E. Y. Harburg (1896–1981, «Over the Rainbow»).
Colm Boyd, «Book of Songs – die Playlist für jede Lebenslage», Prestel