Erdogan Großkundgebung anlässlich des gescheiterten Putschversuchs in der Türkei mit ca 20 000 Erdo
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Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Nationalismus: Früher Kitt, heute Spaltpilz

«Nationalismus taugt nicht als Heilsmittel, höchstens als Droge», schreibt der deutsche Journalist und Buchautor Michael Thumann in seiner brillanten Analyse über den neuen Nationalismus, der zurzeit weltweit grassiert.
Publiziert: 10.10.2020 um 14:12 Uhr
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Aktualisiert: 12.03.2021 um 18:30 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Vereinen und befrieden – was Uno und EU nach dem Zweiten Weltkrieg international bewirken, bewirkt der Nationalismus im 19. Jahrhundert auf Länderebene: Texas und Kalifornien treten den USA bei, die deutschen Fürstentümer bilden das Deutsche Reich, und die Schweiz rauft sich über die Sprachgrenzen hinweg zur Willensnation zusammen. Der britische Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012) sieht im damaligen Nationalismus einen wichtigen Träger der Modernisierung. Heute stehe Nationalismus für «Schwäche und Angst sowie den Versuch, Mauern zu bauen, um die Kräfte der modernen Welt fernzuhalten».

«Vor der Rückkehr der nationalistischen Ideologie und ihren Folgen möchte ich mit diesem Buch warnen», schreibt der deutsche Journalist und Buchautor Michael Thumann (57) in seinem eben erschienenen Sachbuch. Denn während der Nationalismus früher zusammenfügte, zersplittert er heute die internationale Völkergemeinschaft. «Dieses Buch prophezeit nichts», schreibt Thumann weiter. «Ich schöpfe vielmehr aus der Geschichte und den Geschehnissen der jüngsten Zeit, um die Gefahr zu beschreiben, vor der Europa steht.»

Thumann ist ein Kenner der Materie, war er doch in den 1990er-Jahren für die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» Reporter im zerfallenden Ex-Jugoslawien, von 1996 an Korrespondent in Russland und ab 2007 in der Türkei. Er führte Interviews mit dem nationalistischen Serbenführer Radovan Karadzic (75), mit dem russischen Machtmenschen Wladimir Putin (68) und dem von einer Grosstürkei träumenden Recep Tayyip Erdogan. Putin und Erdogan bilden denn auch den Schwerpunkt in dieser politischen Analyse.

Thumann macht bei beiden Nationalisten drei Phasen aus. Putin trat zunächst als Landesretter auf, füllte dann die Staatskassen durch den Anstieg des Ölpreises, schliesslich «ersetzte der Stolz das Geld, wurde der Nationalismus zur herrschenden Ideologie». Erdogan näherte sich anfangs dem Westen an, baute ab 2010 den autoritären Staat aus und setzte ab 2015 die Erzählung von der «neuen Türkei» in die Welt. Anhand dieser beiden Staatsführer belegt Thumann, dass immer weniger genuine Nationalisten autoritäre rechte Politik betreiben, sondern Zweck- und Gelegenheitsnationalisten, die den Nationalismus bloss als Machtmittel benutzen.

Weitere aktuelle Nationalisten runden dieses Bild ab – vom Ungarn Viktor Orban (57) bis zum britischen «Eliten-Hallodri» Boris Johnson (56), der gemäss Thumann eine Ausnahmeerscheinung ist. «Orban kommt aus einer einfachen Akademikerfamilie auf dem Land, Erdogans Vater lenkte eine Flachwasserfähre auf dem Goldenen Horn, Putins Eltern waren Fabrikarbeiter in Leningrad», schreibt Thumann. Aber: «Alexander Boris de Pfeffel Johnson ist von hoch oben eingeflogen.»

Zum Schluss macht der deutsche Nationalismusforscher Hoffnung: «So wie der neue Nationalismus im Osten Europas zuerst zugeschlagen hat, so nehmen auch seine Verfallserscheinungen den Anfang im Osten.» Und er nennt den zunehmenden innenpolitischen Gegenwind in Russland und in der Türkei.

Michael Thumann, «Der neue Nationalismus – die Wiederkehr einer tot geglaubten Ideologie», Die andere Bibliothek

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