Als Teenager hatte ich das Fensterbrett voller Grünpflanzen, ein rauswuchernder Urwald, sodass ich nachts die Rollläden nicht richtig runterlassen konnte. In den Sommerferien zu jener Zeit zeigte mein Onkel bei Wanderungen entlang des Bielersees auf all das Gewächs am Ufer und konnte jedes einzelne benennen, Farne zum Beispiel, die ich zu Hause hegte und pflegte.
«Dabei ist ein Botaniker kein Gärtner. Dieses Missverständnis hält sich seit dem 16. Jahrhundert», schreibt der Franzose Marc Jeanson (39) zusammen mit der Journalistin Charlotte Fauve (?) in einem Sachbuch, das jetzt erscheint, und macht mir den Unterschied zwischen meinem Onkel und mir bewusst. Der Gärtner begleite die Entwicklung der Pflanzen, er umhege sie, erhalte sie am Leben. «Der Botaniker dagegen schneidet Pflanzen ab, er beobachtet sie im Tod, um sie besser im Leben situieren zu können.»
Marc Jeanson ist Botaniker – und welch einer: «Ich, Marc Jeanson, bin Pflanzenerfinder», schreibt er nicht ganz unbescheiden zu Beginn des Buchs. Doch nicht zu Unrecht, denn am Nationalen Museum für Naturgeschichte in Paris ist Jeanson Direktor des grössten Herbariums der Welt. 11 Millionen getrocknete Blüten, Blätter und Blumensamen aus der ganzen Welt lagern dort, eine Sammlung, die Ende des 16. Jahrhunderts mit ein paar Tausend Pflanzen begann.
Jährlich gehen im Pariser Institut 10000 bis 15000 neue Belege ein, die Pflanzenerfinder wie Jeanson einordnen und benennen müssen. «Den Schätzungen meiner Kollegen zufolge steht für 90 Prozent aller Lebewesen die Entdeckung noch aus, und es ist Eile geboten», schreibt Jeanson. Denn das sechste Massensterben auf der Erde raffe immer mehr Arten dahin, «sie sterben aus, noch bevor die Forschung ihnen einen Namen hätte zuteilen können. Unser Dauerlauf wird zur Hetzjagd.»
«Botaniste», wie der französische Bestseller im Original heisst, zeichnet einerseits Jeansons Weg zum Botaniker nach, andererseits ist das Buch eine Ehrenschrift für wegweisende Wissenschaftler des Fachs: der Schwede Carl von Linné (1707–1778) zum Beispiel, der die lateinischen Pflanzennamen auf zwei Worte reduzierte; der Deutsche Rudolf Jakob Camerarius (1665–1721), der die Sexualität der Pflanzen mit Staubblatt und Stempel als Erster benannte. «Mit einem Schlag verliert die Natur ihre Unschuld.»
Verliert die Pflanzenwelt nach der Unschuld heute ihre Lebensgrundlage? Jeanson ist trotz Artensterben zuversichtlich: «Die Pflanzen gewinnen immer.» Der Botaniker sah blühende Exemplare in verbrannten Savannen, trostlosen Kieswüsten oder auf urbanem Asphalt. «In fünf Milliarden Jahren wird die Sonne zu einem Gasnebel», schreibt er zum Schluss. «Das dürfte dann das Ende der Pflanzen sein.»
Charlotte Fauve/Marc Jeanson, «Das Gedächtnis der Welt – vom Finden und Ordnen der Pflanzen», Aufbau; ab 18. August im Handel