Es ist Fastenzeit: Wenig bis gar nichts essen bis Ostern – das war die Regel zumindest, als die christlichen Kirchen hierzulande noch mehr Zulauf hatten. Heute setzt sich jeder zu jeder Zeit selber Ziele. So ernähre ich mich seit den Weihnachtsgelagen nach der 5:2-Diät – an fünf Tagen esse und trinke ich, was ich mag, an zwei Tagen nehme ich jeweils nur 600 Kilokalorien zu mir. Jetzt bin ich schon einige Kilos leichter.
«Das hat nichts mit Fasten zu tun», schreibt Raimund Wilhelmi (70) in seinem Buch «Das Glück des Fastens». «Gewicht kann man auch verlieren, indem man weniger Zucker und weniger Fett zu sich nimmt oder generell die Kalorienzufuhr reduziert und sich mehr körperlich bewegt.» Dazu brauche man keinen Arzt, keine Schwester, keinen Therapeuten.
All das bietet Wilhelmi in Überlingen (D) ennet dem Bodensee in der grössten Fastenklinik Deutschlands, die er bis vor einem Jahr leitete, bevor er sie seinem Sohn übergab. Dort lassen reiche Prominente wie Kinostars Jodie Foster (57) und Sean Connery (89), Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa (83) oder der ehemalige Schweizer Bankmanager Josef Ackermann (72) regelmässig viel Geld liegen, um kein Essen zu bekommen: Einlauf statt Auflauf, Rüeblisaft statt Saftplätzli.
«Buchinger Wilhelmi» heisst die Klinik, weil Wilhelmis Grossvater Otto Buchinger (1878–1966) das Heilfasten erfunden und an sich erprobt hatte und vor genau hundert Jahren in Witzenhausen bei Kassel (D) das erste Kurheim eröffnete. «Während des Fastens geht es dem Körper gut, aber die Seele hungert», zitiert Wilhelmi seinen Grossvater, der als Quäker und späterer Katholik in der Religion Seelennahrung erkannte – Fasten also im ursprünglichen Sinne.
Wilhelmi sieht das wesentlich säkularer. «Das heute quasi zur Religion erhobene Unverständnis jeglicher Ausschweifung gegenüber kann ich nicht nachvollziehen», schreibt er. «Darin unterscheide ich mich vom Grossvater, der wenig Nachsicht hatte mit Leuten, die Wurst und Schinken in sich hineinstopften.» Der Enkel erkennt dafür in der Handysucht ein neues Problem. «Digitalfasten ist ein grosses gesellschaftliches Thema», so Wilhelmi. «Da haben weder die Gesellschaft noch wir bislang eine Lösung gefunden.»
Diese anregende Hommage an Otto Buchinger ist zugleich eine Ode an den Verzicht in Zeiten des Überflusses, ohne die Verbotskeule zu schwingen. Vielmehr propagiert sie regelmässiges Fasten als Chance gegen Bluthochdruck, Übergewicht, Asthma und Arthritis. Fasten sei nicht bloss ein Akt der Askese und Selbstpeinigung. Aber – und da trifft Wilhelmi wieder den religiösen Grossvater: «Fasten verändert uns, aber nur, wenn wir das wollen und daran glauben.»
Raimund Wilhelmi, «Das Glück des Fastens – was mein Grossvater Otto Buchinger schon wusste und was wir gewinnen, wenn wir verzichten», Hoffmann und Campe