In meiner Kindheit besuchten wir mit der Familie zuweilen Bekannte meiner Eltern in St. Moritz GR. Als Knirps faszinierten mich dort immer zwei Sachen: die knollige Nase des alten Gastgebers und das Segelschiff in einer Flasche, die auf einem Gestell im Wohnzimmer lag – das Miniaturmodell eines hochseetauglichen Dreimasters hoch oben in den Engadiner Bergen. Weitab vom Meer hatten die Bekannten meiner Eltern offenbar eine Sehnsucht nach den Weiten der Ozeane.
Eine Sehnsucht, die auch der deutsche Schriftsteller Thomas Mann (1875–1955) teilte, als er einen Roman über ein Sanatorium in Davos GR schrieb: «Der Zauberberg» (1924). «Das Kapitel heisst ‹Schnee›. Es handelt vom Meer», schreibt der deutsche Literaturkritiker Volker Weidermann (53) in seiner Mann-Biografie, die seit ihrem Erscheinen vor einigen Wochen eine Top-Platzierung in der Sachbuchliste der «Spiegel»-Bestseller innehat. Der «Zeit»-Feuilleton-Chef Weidermann trifft damit offenbar einen Nerv.
Konsequent liest er das umfangreiche Werk des Literaturnobelpreisträgers im Hinblick aufs Meer. Und tatsächlich spielen vor allem das Mittelmeer und die Ostsee in Leben und Literatur von Thomas Mann eine zentrale Rolle. Seine Mutter Julia (1851–1923) kam an der brasilianischen Atlantikküste zur Welt, heiratete später in Lübeck (D) den Kaufmann Thomas Johann Heinrich Mann (1840–1891). Und dort an der Ostsee kamen dann die Söhne Heinrich (*1871) und Thomas (*1875) zur Welt.
«Das Meer! Die Unendlichkeit!», schrieb Thomas Mann bereits in jungen Jahren. «Meine Liebe zum Meer, dessen ungeheure Einfachheit ich der anspruchsvollen Vielgestalt des Gebirges immer vorgezogen habe, ist so alt wie meine Liebe zum Schlaf.» Tommy, der Träumer – wie Weidermann ihn nennt –, sei von Anfang an etwas freier als der grosse Heinrich gewesen. Immer wieder liessen sich die beiden Brüder die ferne Herkunft von ihrer Mutter erzählen: «Was? So weit? Durch so viel Blau von uns getrennt?»
Auf Grundlage der eigenen Familiengeschichte veröffentlichte Thomas Mann 1901 den Roman «Buddenbrooks» über den Verfall einer Lübecker Kaufmannsfamilie, wofür er 1929 den Literaturnobelpreis bekam. «Drei Buddenbrooks fahren ans Meer», schreibt Weidermann. «Zwei finden dort das Glück, einer den Tod.» 1911 folgte die Novelle «Tod in Venedig», die am Strand endet. «In diese Novelle hat Thomas Mann alles, was er vom Meer weiss, hineingeschrieben», so der Literaturkritiker. «Alles, was ihn am Meer immer angezogen hat, alles, wovor er Angst hat.»
Das Meer sei der stille Held all seiner Bücher, schreibt Weidermann und zählt auf, wofür es in Thomas Manns Leben stand: «Verantwortungslosigkeit, Sympathie mit dem Tod, Sog ins Verderben, verbotene Liebe, Unpolitik, Antidemokratie, Rausch, Romantik, seliges Vergessen, Glück ohne Pflicht, Schönheit, Ferien für immer.» Wenn das mal keine Strandlektüre ist – entweder diese Mann-Biografie von Volker Weidermann als Appetizer oder gleich ein Meer-Buch von Thomas Mann.
«Mann vom Meer – Thomas Mann und die Liebe seines Lebens», Kiepenheuer & Witsch
«Mann vom Meer – Thomas Mann und die Liebe seines Lebens», Kiepenheuer & Witsch