Ich heisse Sereno, der Heitere auf Italienisch. Sereno ist mein Pfadiname, denn als Jugendlicher war ich bei den Pfadfindern von St. Mauritius in Zürich-Höngg. 1977 wars, als mich die Älteren tauften: Während des Sommerlagers zerrten sie mich in einer Nachtaktion aus dem Zelt, und ich musste in der Dunkelheit den Weg durch den Wald finden. Schreckerfüllt stolperte ich durch die Finsternis.
«Die Führer der Ureinwohner Nordamerikas wurden manchmal auch ‹Pfadfinder› genannt», schreibt der amerikanische Journalist und leidenschaftliche Wanderer Robert Moor in seinem ersten Buch «Wo wir gehen». 2009 läuft er den 3500 Kilometer langen Appalachian Trail an der Ostküste der USA von Georgia nach Maine ab. Da kommt ihm die Frage auf: «Warum gab es eigentlich Pfade?» Und er macht sich auf die Suche nach Antworten: «Dieses Buch ist das Ergebnis jahrelanger Forschung und weiter Wanderungen.»
Moor stösst auf die ältesten, 541 Millionen Jahre alten Wege in Fossilien, auf Nervenbahnen im menschlichen Gehirn, auf unterirdische Pfade von Termiten oder Nacktmullen und auf Ameisenstrassen. «Ameisenstrassen verdanken ihre bewundernswerte Effizienz einem einfachen Rückkopplungsmechanismus», schreibt Moor. «Eine Ameise hinterlässt eine Spur, der eine andere Ameise folgt, dann noch eine, und noch eine, sodass sich mit jedem Mal die Spur verstärkt.» Erst Ende der 1950er-Jahre entdeckt der Harvard-Biologe Edward O. Wilson die Drüse für diese Spurpheromone.
Den Ameisen spricht Moor ein hohes Mass an Selbstlosigkeit zu, das uns auffallend abgehe. «Wenn zum Beispiel Wanderameisen im Labor eine V-förmige Rampe überqueren müssen, errichten sie mit ihrem eigenen Körper eine Brücke, um den Weg abzukürzen», schreibt Moor. «Beim Menschen wäre das so, als würde ein zur Arbeit eilender Geschäftsmann seinen Kollegen helfen, schneller voranzukommen, indem er sich auf ein Bauloch im Gehweg legt.»
Überhaupt sei der Mensch egoistisch und ineffizient unterwegs. So zeigen Untersuchungen, dass eine einzelne Person, die sich durch die Menschenmenge schlängelt, die ganze Masse verlangsamt. «Wenn aber alle im Fluss mitlaufen und keiner versucht, schneller zu sein als die anderen, gelangen die einzelnen Mitglieder des Schwarms schneller zu ihrem jeweiligen Ziel», so Moor. Und noch eine Erkenntnis: Überall wo Menschen schneller vorankommen wollen, sind die Wege gerader, flacher und härter.
«Ameisenpfade, Wildwechsel, uralte Trampelpfade, moderne Wanderwege – sie alle passen sich kontinuierlich den Zielen deren an, die sie gehen», schreibt Moor. Ruhm und Ehre gebühre den Wegbereitern, aber den Nachfolgern komme beim Entstehen eines Pfads eine ebenso wichtige Rolle zu. Jeder kennt die ausgetretenen Abkürzungen quer über Wiesen in Parkanlagen. Denn beim Gehen verhalten wir uns wie Wasser: Wir suchen den kürzesten Weg des geringsten Widerstands.
Robert Moor, «Wo wir gehen – unsere Wege durch die Welt», Insel