Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Das Mass aller Dinge ist der Mann

«It’s a Man’s Man’s Man’s World» sang James Brown. Ein männerkritischer Song von diesem Macho? Nun, Betty Jean Newsome schrieb mit, aber das weiss kaum jemand. Auf Wikipedia gibt es keinen Eintrag zu ihrem Namen. Wer dieses Buch liest, wundert sich nicht darüber.
Publiziert: 08.03.2020 um 15:13 Uhr
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Aktualisiert: 12.03.2020 um 12:08 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Heute ist der 8. März, der jährliche «Tag der Frau», die restlichen Tage des Jahres davor und danach gehören dem Mann: Diesen Eindruck bekommt, wer das eben auf Deutsch erschienene Sachbuch «Unsichtbare Frauen» der in London lebenden Journalistin Caroline Criado-Perez (35) liest. Mit reichlich recherchiertem Datenmaterial belegt sie, wie man Frauen in Alltag, Architektur und Arbeitswelt systematisch ignoriert. Das Mass aller Dinge ist der Mann.

Criado-Perez, die mit 18 Opernsängerin werden wollte, bringt unter anderem das einleuchtende Beispiel des Klavierbaus. «Die durchschnittliche Handspannweite einer Frau beträgt zwischen 17,8 und 20,3 Zentimeter, sodass eine Standardklaviatur mit 122 Zentimeter zur Herausforderung wird», schreibt sie. «Die Oktaven auf einer Standardklaviatur sind 18,8 Zentimeter breit.»

Eine Studie von 2015 stellt die Handspannbreite von 473 Pianistinnen und Pianisten dem Grad ihrer Berühmtheit gegenüber. Das Ergebnis: Das international berühmteste Dutzend hat eine Handspannbreite von 22,3 Zentimeter und mehr – die zwei Damen, die es in diesen erlauchten Kreis schaffen, gar 22,8 beziehungsweise 24,1 Zentimeter. Ein Sonderproblem? Solche Missverhältnisse diskriminieren jede Frau überall auf der Welt.

So sind etwa Küchenkasten ideal gebaut für Zwei-Meter-Männer, doch die 1,60 Meter grosse Frau, die eh mehr Hausarbeit verrichtet, kommt nicht an die oberen Tablare ran. Und es mag geschlechtsneutral erscheinen, dass öffentliche WCs für Frauen und Männer gleich gross sind. Doch auf der Fläche einer Kabine lassen sich beinahe zwei Urinale für Männer unterbringen. Nicht zufällig bilden sich also in Kino- und Theaterpausen vor Frauen-WCs lange Schlangen, während die Männer schon wieder an den Plätzen sitzen.

Criado-Perez unterstellt den Männern keine böse Absicht bei der Missachtung der Frauen. Aber sie weist beharrlich auf Missstände hin. Erste Berühmtheit erlangte sie durch das «Women’s Room»-Projekt von 2013, bei dem sie gegen das Verschwinden von Frauen (ausser der Queen) von englischen Banknoten protestierte. Darauf setzte die Bank of England 2017 die Schriftstellerin Jane Austen auf die 10-Pfund-Note.

Die Ironie des Schicksals: Zuweilen führt genau die Unsichtbarkeit der Frau zu deren Präsenz. «Im 20. Jahrhundert gehörten den New Yorker Philharmonikern fast keine Musikerinnen an», steht im Buch. Doch plötzlich in den 1970ern stieg der Frauenanteil sprunghaft an. Was war passiert? Damals führte man das «blinde Vorspielen» ein: die Vorspielenden präsentierten ihr Können der Auswahlkommission hinter einem Sichtschutz – und plötzlich waren auch Frauen gut genug.

Caroline Criado-Perez, «Unsichtbare Frauen – wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert», btb

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