Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Bereiten wir uns auf den nächsten Ausbruch vor!

Überraschen kann einen nur, was man nicht kennt. Ziehen wir also unsere Lehren aus zwei Jahren Corona, denn nach der Pandemie ist vor der Pandemie.
Publiziert: 01.03.2022 um 08:10 Uhr
Tauben im menschenleeren Zürcher Hauptbahnhof während des Lockdowns im März 2020.
Foto: keystone-sda.ch
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

«Pandemie-Angst infiziert die Wirtschaft», lautet eine Meldung, die 2009 durchs Internet geistert. Ich arbeite zu diesem Zeitpunkt für eine Agentur und muss deswegen einen Podcast entwerfen, der Kinder zu regelmässigem Händewaschen animieren soll. Hygiene als Prävention gegen die im Fernen Osten ausgebrochene Schweinegrippe – falls sie denn zu uns überschwappt. Bekanntlich traf es uns damals nicht, der Hörbeitrag kam nicht zum Einsatz, die Kinderhände blieben schmutzig.

«Warum wurden die spezifischen, das gesellschaftliche Leben kaum beeinträchtigenden Präventionskonzepte der Infektionshygiene und des Public Health missachtet und durch die grobschlächtige Methode des ‹Grossen Lockdown› ersetzt?», fragt sich heute der deutsche Arzt und Historiker Karl Heinz Roth (79) in seinem eben erschienenen Buch über die Corona-Pandemie. Er zieht darin eine erste umfassende Bilanz der weltweiten Gesundheitskrise und fordert Lehren für die nächste, die bestimmt komme.

Roth ist kein Corona-Leugner, ganz im Gegenteil. «Der Erreger von Covid-19 ist alles andere als harmlos», schreibt er. Doch ganz linker Basisdemokrat, welcher der Alt-68er und frühere Vorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds immer noch ist, sieht Roth das «behördliche Einfrieren des privaten, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens» kritisch. Das Vorbild dafür erkennt er in China, das nach anfänglicher Vertuschung später umso rigoroser durchgriff. «Dieses drastische Vorgehen lud zur Nachahmung ein», so Roth.

Das mag bis zu einem gewissen Mass stimmen, doch es ist schon sehr fraglich, ob wir ohne den befristeten, kurzen Lockdown besser durch die Krise geschlittert wären. Und wenn Roth «Selbstschutzmassnahmen der Bevölkerung» als das tauglichere Mittel erachtet, dann legt der ehemalige Kommunist doch eine sehr libertäre Haltung an den Tag. Denn ob alle freiwillig Hände desinfiziert, auf Abstand geachtet und Maske getragen hätten, das ist mehr als fraglich. Dafür müssten alle den Ernst der Lage erkannt haben.

Bedenkenswert ist das Buch allerdings dort, wo es der Frage nachgeht, ob der Lockdown als Hauruck-Übung vermeidbar gewesen wäre, weil die Welt geschichtsbewusst besonnen und zukunftsorientiert vorausschauend auf den Corona-Ausbruch reagiert hätte. Denn darauf spielt der Historiker Roth mit dem Titel «Blinde Passagiere» an: Die Kapitäne diese Welt schipperten im Rumpf ihrer Kähne schon immer Viren mit – um beim Bild zu bleiben. Und deshalb hätte der Corona-Ausbruch niemanden überraschen dürfen.

«Die Sars-CoV-2-Pandemie ist der vorläufige Höhepunkt einer globalen Ausbreitung neu auftretender Infektionskrankheiten, die schon vor einigen Jahrzehnten begonnen hat», schreibt Roth. Dass immer neue Krankheitserreger – und insbesondere Viren – die Artenschwelle überschreiten und in den Menschen eindringen, sei das Ergebnis der fortschreitenden Zurückdämmung der natürlichen Bio- und Ökosysteme, der damit einhergehenden Expansion des Agrobusiness und der Massentierhaltung.

Karl Heinz Roth, «Blinde Passagiere – die Corona-Krise und die Folgen», Kunstmann

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