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«Im Wein liegt Wahrheit – und mit der stösst man überall an», schreibt der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Wahrheitsgetreu ist die zu seinem 250. Geburtstag erschienene Biografie von Jürgen Kaube, gedankenanstossend der Essay von Slavoj Zizek.
Publiziert: 22.08.2020 um 13:59 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Erst denkend sind wir Erdenbürger. Durch Erkenntnis erschaffen wir uns die Welt. Die Wirklichkeit ist also letztlich bloss eine Idee von uns Menschen. Deshalb schreibt der idealistische Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831): «Das Ideal ist das Wirkliche in seiner höchsten Wahrheit.»

Am 27. August vor 250 Jahren kommt der Universal-Denker Hegel in Stuttgart (D) zur Welt. Der deutsche Soziologe Jürgen Kaube (58), Mitherausgeber der «Frankfurter Allgemeine Zeitung», hat ihm eben eine kolossale Biografie gewidmet, in welcher der Journalist detailreich und anschaulich über Hegels Leben schreibt – die Studentenzeit in Tübingen (D) an der Seite von Hölderlin, die Hauslehrerjahre in Bern, die Philosophenwerdung in Jena (D) und das triumphale Finale in Berlin.

1770 in eine Zeit voller Umbrüche hineingeboren – die Französische Revolution steht vor der Tür, die Industrialisierung nimmt mit der Erfindung der Dampfmaschine Fahrt auf –, ist Hegel mit seinen philosophischen Werken selber ein Umwälzer. Sein 1807 veröffentlichtes, erstes Hauptwerk «Phänomenologie des Geistes» beeindruckt später Karl Marx (1818–1883) und ist mit dem Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft Wegbereiter für den theoretischen Kommunismus.

Erst denkend sind wir Erdenbürger. «Ich denke, also bin ich», dieses berühmte Diktum des französischen Philosophen René Descartes (1596–1650), reicht Hegel allerdings nicht mehr, denn für ihn ist der Mensch primär ein soziales Wesen. Das Wir steht für ihn im Mittelpunkt, wie Kaube ausführt: «Ernst mit dem Selbstbewusstsein wird es für ihn (…) erst, wenn es einem anderen Selbstbewusstsein in die Augen schaut.»

Auge in Auge mit Hegel präsentiert sich der wohl weltweit berühmteste zeitgenössische Philosoph Slavoj Zizek (71) auf dem Umschlag seines neuen Buchs, das ebenfalls zum Jubiläum erscheint. Der Slowene macht gleich zu Beginn klar: «Dieses Buch ist keine Hegel-Studie, es versucht vielmehr einen hegelianischen Ansatz zu verfolgen.» Zizek will nicht aufzeigen, wie zeitgemäss Hegels Denken ist, vielmehr will er als bekennender Hegelianer mit seinem Vorbild die Gegenwart denken – ein spannendes Projekt.

Was taugen gut 200-jährige Gedanken im digitalen Zeitalter? Erstaunlich viel, aber Zizek muss auch Grenzen erkennen: Nach der Französischen Revolution tauchen neue Formen von Macht und Herrschaft auf, für die es im festen Koordinatensystem von Hegels politischem Denken schlicht keinen Platz gebe. «Es gibt keine Platz für demokratisch gewählte, populistische, charismatische Führer, die Wählerstimmen gewinnen, indem sie offen ihre Obszönität zur Schau stellen», schreibt Zizek im Hinblick auf Trump, Bolsonaro, Orban und Co.


Jürgen Kaube, «Hegels Welt», Rowohlt Berlin

Slavoj Zizek, «Hegel im verdrahteten Gehirn», S. Fischer

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