Der deutsche Psychiater und Autor Manfred Spitzer ist überzeugt: In unseren Ländern ist Einsamkeit die häufigste Ursache von Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Depression und Suchtkrankheit. Eine epidemisch sich ausbreitende Krankheit mit fatalen Folgen für Körper und Seele.
Unter Einsamkeit versteht Manfred Spitzer nicht nur soziale Isolation, sondern einen anhaltenden inneren Schmerz der Beziehungslosigkeit, an dem Menschen auch mitten unter Menschen, im grössten Aktivismus, leiden können.
Optimiert und automatisiert
Die steigende Selbstmordrate unter Jugendlichen könnte damit zusammenhängen. Pro Tag verbringen junge Menschen bis zu neun Stunden mit Medien wie Instagram, Whatsapp oder Facebook, aber deutlich weniger mit persönlichen Begegnungen. In den Städten leben immer mehr Singles, Arbeit und Freizeit werden laufend optimiert und verplant.
Hinzu kommt die Automatisierung des Alltags: Heute ist es möglich, fast alles online einzukaufen, ein Billett zu lösen, im Shoppingcenter zu bezahlen und sich tagelang durchzuschlagen, ohne mit einem einzigen Menschen kommunizieren zu müssen.
Keine Zeit für die andern
Familiäre Beziehungen, die viel Zeit und Geduld erfordern, werden häufig gemieden. Die Erziehung der Kinder wird an die Krippe und an die Schule, die Pflege der Grosseltern ans Altersheim ausgelagert. Niemand scheint mehr Zeit zu haben für den Dienst am Anderen, für eine verbindliche, unverzweckte Beziehung.
Selbst jene, die von Berufs wegen Zeit für den Menschen haben müssten – Mediziner, Seelsorger, Pflegepersonal –, klagen über Rationalisierung und Bürokratisierung. Über einen Verwaltungsapparat mit festgelegten Abläufen, der den individuellen Freiraum für das Zwischenmenschliche zu ersticken droht.
Einsamkeit ist heilbar!
Bei alledem lautet jedoch die gute Nachricht: Wenn Einsamkeit die schlimmste Krankheit unserer Epoche ist, dann können wir diese Krankheit selber heilen, ohne Hightech-Medizin und millionenschwere Forschung. Wir müssen einander nur genug Zeit schenken.
Wir müssen die persönliche Beziehung wieder als Kraftquelle des Lebens entdecken. Als Antwort auf das, was meine Tante Angela-Maria sagt: «Wie viel Kram sich die Leute heute schenken, wie viel Geld sie für Dinge ausgeben! Aber wenn es um ihre persönliche Zeit geht, sind sie geizig.»
Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.