Wir sind uns einig: Der Idealzustand eines ICE besteht darin, dass er pünktlich ankommt und permanenten Online-Zugang ermöglicht. Wir sind uns im Weiteren einig, dass die Deutsche Bahn es häufig nicht schafft, diesen Idealzustand zu erreichen, und dass das für die Passagiere ein Ärgernis darstellt. Wir müssen uns aber auch einig sein, dass es nur ein Ärgernis ist und kein echtes Problem wie zum Beispiel eine schwere Krankheit, der Tod eines Kindes, Armut, Hunger, Flucht vor Krieg. Nun ist es aber leider so, dass man ausgelacht wird, wenn man vermeintlichen Problemen reale gegenüberstellt. Dann winken die Leute ab und spotten: «Ja, ja, ich weiss, die Kinder in Afrika.» Dabei ist der Aufruf, die Dinge in der richtigen Perspektive zu sehen, kein altbackener Moralismus, sondern eine dringend notwendige Lektion in Demut. Auch in Europa gibt es bittere Not, aber die meisten von uns haben problemlosen Zugang zu sauberem Wasser und einen prall gefüllten Kühlschrank, zudem darf jeder frei seine Meinung äussern und verschwindet nicht in einem Folterknast, wenn er die Regierung kritisiert. Wir sind umgeben von einer Fülle, für die wir uns täglich hundert Mal bedanken müssten. Und es nie tun.
Das Problem ist nicht, dass Ihr Zug verspätet ist. Das Problem ist, dass Sie offenbar vergessen haben, wie gut es Ihnen geht. Natürlich würden Sie gern pünktlich ankommen – nun kommen Sie eben später an. Natürlich wären Sie gern online – nun sind Sie es eben nicht. Sie werden heute Abend dennoch satt in einem Bett liegen und nicht hungrig auf ein paar Lagen Karton. Sich nicht über die Verspätung aufzuregen, schaffen Sie, indem Sie ein paar tiefe Atemzüge tätigen und sich bewusst machen, wofür Sie alles dankbar sein können, ja müssen. Ihr vermeintlicher Ärger wird daneben sofort verblassen.