Ist Ihnen schon mal eine Fischgräte im Hals stecken geblieben? Unangenehm, nicht? Dafür hätte ein Bartgeier nur ein müdes Lächeln übrig, wäre er denn zu einem Lächeln fähig.
Bartgeier haben aber eine andere Fähigkeit, zu der fast keine andere Tierart imstande ist. Sie können Knochenstücke mit einer Länge von maximal 18 Zentimeter verschlucken – so lang wie eine menschliche Hand.
Grössere Knochen werden vor dem Verzehr zerkleinert. Dazu fliegen die Geier zu sogenannten Knochenschmieden, das sind Geröllhalden, wo sie die Knochen aus bis 80 Meter Höhe fallen lassen. Dies wiederholen sie, bis die Stücke mundgerecht zerbrochen sind. Im Spanischen tragen die Geier denn auch den Namen «Knochenbrecher».
Und bleibt tatsächlich mal ein Stück im Hals stecken – kein Problem: Die Luftröhre reicht fast bis zur Schnabelspitze, damit kriegen sie auch noch Luft, wenn der Gämsknochen nicht auf Anhieb runterflutschen mag.
Der Bartgeier ist mit einer Spannweite von über 2,6 Meter der grösste Vogel der Alpen. Hundert Jahre lang war er im Alpenraum ausgerottet. 1986 begann die erfolgreiche Wiederansiedlung, die noch immer im Gang ist.
Die Website der Stiftung Pro Bartgeier zeigt eindrücklich, wie aufwändig die Wiederansiedlung ist – und mit wie viel Herzblut sie betrieben wird. Die jungen Bartgeier werden in einer Felsnische ausgesetzt und von einem Team gefüttert und beobachtet, das über Wochen in der Nähe einer Baracke lebt. Zuerst werden die Küken gefüttert, bis sie fliegen lernen und selber auf ihre ausgedehnten Streifzüge gehen.
Gemäss der Stiftung ziehen inzwischen 220 Bartgeier durch die Alpen. Und erfreulicherweise gibt es immer mehr natürliche Bruten in der Schweiz: Nach Graubünden und Wallis konnte heuer erstmals der Kanton Bern einen Bruterfolg vermelden. Bartgeier werden erst mit fünf bis sechs Jahren geschlechtsreif und ziehen pro Jahr maximal ein Jungtier auf – daher wächst die Population nur langsam.
In unseren Alpen ernähren sich die Geier ausschliesslich von Aas und Knochen. Knochen sind übrigens nahrhafter, als man vermuten würde. Sie enthalten viel Fett und Eiweiss. Ob sie denn auch schmecken, das ist eine Frage, die nur Bartgeier beantworten können – könnten sie denn reden.
Simon Jäggi (40) ist Sänger der Rockband Kummerbuben und arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern.