Schriftstellerin Milena Moser
Ein neues Jahr ist nur eine Zahl

Nichts ist neu. Nichts ist anders, nichts fängt neu an. Es ist nur ein Tag im Kalender, eine Zahl. Zugegeben, eine schöne Zahl: 2020.
Publiziert: 04.01.2020 um 14:13 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben.
Foto: David Butow
Milena Moser

Das erinnert mich an meinen Schulweg, der vor enorm langer Zeit durch eine Fussgängerunterführung führte. Dort war die Zahl 2000 an die Wand gesprayt. Jedes Mal, wenn ich durch diese ­Unterführung ging, blieb mein Blick an dieser unglaublichen Zahl hängen: 2000. Ich versuchte mir vorzustellen, wie die Welt dann aussehen würde: Ob der fliegende Fernsehsessel, den ich mir auf dem langen Fussmarsch ausmalte, komplett mit eingebautem Getränkehalter und je nach Saison Sonnenschirm oder Felldecke, dann das Auto ersetzt hätte? Noch weniger als die Welt ­konnte ich mir mich selber vorstellen. An diesem fernen ­Silvesterabend wäre ich 36½ Jahre alt (das «einhalb» war damals wichtig). Ein mythisches Alter, das ich vielleicht gar nie erreichen würde. So sehr ich mir wünschte, das feindliche Terrain meiner Kindheit hinter mir zu lassen, so wenig konnte ich mir das vorstellen. Dass ich einmal 36 (einhalb) Jahre alt sein würde. So weit ­reichte meine sonst so übermütige Fantasie nicht.

Ich erinnere mich auch, dass ich den Jahrtausendwechsel dann allein zu Hause verbrachte, im Bett mit einer ­Grippe. Definitiv nicht, was ich mir als Kind unter ­Erwachsensein vorgestellt hatte.

Zwanzig Jahre später weiss ich: Das Leben ist keine ­Zaubertafel, die man einmal im Jahr leerwischen kann. Man kann nicht neu anfangen, ein anderer, hoffentlich besserer Mensch werden. Man macht einfach weiter. Mit allem, was war. Mit allem, was man ist.

Das antworte ich auch, wenn ich wieder einmal ­gefragt werde, woher ich den Mut nähme, in meinem Alter noch einmal von vorn anzufangen. «Ich bin nicht mutig», sage ich dann. «Ich bin nur voller Vertrauen.»

Zum Beispiel hatte ich mich gerade in meiner Casita in Santa Fe eingerichtet, als ich mich in einen Mann ­verliebte, der im 2000 Kilometer entfernten San Francisco lebte. Und der nicht gesund genug war, um mich oft zu besuchen oder gar aus dem Einzugsgebiet der Uniklinik wegzuziehen. Das Pendeln frass mein Erspartes ziemlich schnell auf, und Victors Gesundheitszustand ­verschlechterte sich zunehmends. Ich stand also vor der Wahl: Haus oder Mann.

Die Amerikaner haben den schönen Ausdruck «no-brainer» für eine Entscheidung, über die man nicht nachdenken muss. Ich packte meine Kisten, ich ver­abschiedete mich, ich richtete mich neu ein. Zum wer weiss wievielten Mal. Nun lebe ich wieder in der Stadt, die schon einmal mein Zuhause war, in ­einem ­riesigen Haus mit einem verwilderten Garten, ich, die ich meinen Besitz und Platzanspruch so radikal reduziert hatte. Meine sechs Kisten waren schnell ausgepackt, auf einem Ratebild wären die zehn kleinen Unterschiede vor und nach meinem Einzug nicht zu finden. Naja, ausser vielleicht im Schuhregal …

Aber das Wichtigste, das ich mitgebracht habe, war ohnehin nicht in den Zügel­kisten. Das Wichtigste war dieses ­Vertrauen, das in den Casitajahren wieder in mir gewachsen ist, das Vertrauen ins Leben, das mich mal hier und mal dorthin spült. Ohne sich an den ­Kalender zu halten.

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