Professor Hengartner erklärt
Wozu Tierversuche?

Michael Hengartner ist Präsident des ETH-Rats – und damit so etwas wie der Chef-Forscher der Schweiz. In seiner Kolumne erklärt er Wissenswertes aus der Wissenschaft. Diese Woche: Weshalb es Tierversuche braucht.
Publiziert: 02.06.2021 um 08:03 Uhr
Michael Hengartner, Präsident des ETH-Rats.
Foto: Nathalie Taiana
Michael Hengartner

Endlich kommt dieser Sommer doch noch! Nach wochenlang nasskaltem Wetter wirds jetzt endlich warm. Obendrein hat der Bundesrat wegen der sinkenden Corona-Fallzahlen weitere Lockerungen beschlossen. Ich hoffe, Sie haben darauf schon in einer Gartenbeiz anstossen können!

Dass sich die Corona-Lage entspannt, ist unter anderem eine Folge der Impfungen. Und die verdanken wir intensiver Forschung – und Tierversuchen.

Dabei wurde etwa untersucht, ob das Immunsystem von Säugetieren überhaupt auf die verschiedenen Impfstoffe reagiert. Oder wie diese dosiert und wie oft sie gespritzt werden müssen. Auch nach Nebenwirkungen wurde bei den Tierstudien gesucht. Erst als die Impfstoffe erfolgreich an Mäusen, Ratten und Rhesusaffen getestet worden waren, wurden erste Versuche an Menschen erlaubt.

Tierversuche sind für viele Leute ein sehr emotionales Thema – auch für mich. Niemand will, dass Tiere unnötig leiden. Darum setzt die Forschungsgemeinschaft, zusammen mit den Behörden, seit Jahrzehnten auf das sogenannte «3R-Prinzip». Die drei R stehen für «replace», «reduce», «refine» (ersetzen, reduzieren, verbessern): Tierversuche sollen, wo immer möglich, durch andere Forschungsansätze ersetzt, die Anzahl der Tiere bei nicht ersetzbaren Versuchen so weit wie möglich minimiert und die Tests so durchgeführt werden, dass die Belastung für die Tiere so klein ist wie möglich.

Dieser Ansatz hat schon erhebliche Früchte getragen. So ist beispielsweise die oft wiederholte Behauptung, Versuchstiere würden für die Tests von Kosmetika eingesetzt, wenigstens für Europa falsch. In der Schweiz wurde der letzte solche Test 1995 bewilligt – also vor über 25 Jahren!

Für viele wissenschaftliche Fragen gibt es inzwischen andere Möglichkeiten: Für manche Tests können wir statt ganzer Tiere bloss einige Zellen verwenden. Anderes können wir heute auch komplett im Computer simulieren. Ganz auf Tierversuche verzichten können wir aber, trotz allem, zurzeit noch nicht.

Genau das fordert nun aber eine Volksinitiative, die aktuell im Parlament debattiert wird. Sie möchte die Forschung mit Tieren komplett verbieten – und überdies auch Versuche an Menschen. Dabei geht es nicht nur um Medikamententests und Operationen: Das Verbot würde beispielsweise auch Studien mit Tieren oder Menschen zum Thema «Lernen» oder «Schlaf» verbieten. Dem Nationalrat gingen die Forderungen der Initianten deutlich zu weit (und für einmal waren sich alle Fraktionen einig). Aktuell liegt der Ball beim Ständerat – und voraussichtlich diesen Winter werden wir an der Urne darüber befinden.

Wenn wir im Kampf gegen Corona, Krebs und andere Krankheiten vorankommen wollen, können wir die Forschung mit Versuchstieren heute leider noch nicht abbrechen. Was es aber braucht, ist mehr Forschung zu Alternativmethoden. Genau dies hat der Bundesrat im Februar angekündigt: Er lancierte ein neues Nationales Forschungsprogramm zum Thema 3R. Dieses Programm wird der Schweiz helfen, dem langfristigen Ziel, auf Tierversuche ganz zu verzichten, einen grossen Schritt näher zu kommen.

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