Die Notstandsmassnahme, die letzte Woche hier in Kraft trat und ähnlich aussieht wie die in der Schweiz, heisst «shelter in place», grob übersetzt «Unterschlupf an Ort». Das heisst: Wir bleiben genau da, wo wir jetzt sind. Wir bewegen uns nicht von diesem Ort weg, oder nur im absoluten Notfall. So schützen wir uns, klar, aber vor allem schützen wir die anderen. Ich habe null Verständnis für die, die diese Massnahmen nicht einhalten. Und wenn ich ehrlich bin, verstehe ich auch die nicht, die sie mit der Begründung, «ich will mich ja nicht anstecken», befolgen. «Ich will niemand anderen anstecken», wäre die richtige Haltung.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin keine Heilige. Natürlich habe ich Angst. Meine Angst zieht Kreise wie ein Stein, der ins Wasser fällt und die glatte Oberfläche zerstört. In der Mitte die tiefste Sorge, die um Victor. Der nächste Kreis: meine Familie, meine Mutter, die durch Krankheit und Medikamente gefährdeten Freunde und Freundinnen. Meine Nachbarn. Die zahlreichen Obdachlosen, die Unversicherten, die, die nicht mehr arbeiten können und keinen Lohnausfall bekommen, das Pflegepersonal, dem es an Schutzvorrichtungen mangelt, die bereits Erkrankten, für die keine Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen. Meine Angst zieht immer grössere Kreise, bis die ganze Oberfläche meiner Seele in Aufruhr ist.
Das Schlimmste: Ich kann in dieser Situation nicht für andere da sein, wie ich es gewohnt bin. Ich kann meine Freundin nach ihrer Brustkrebsoperation nicht im Krankenhaus besuchen. Ich kann meine Nachbarin nicht umarmen, ihr krankes Kind nicht hüten. Ich kann nicht mehr einfach ins Flugzeug steigen, um mich um meine Mutter zu kümmern, wie ich es ihr vor fünf Jahren versprochen habe. Ganz selbstverständlich habe ich damals angenommen, das würde immer so bleiben. Ich war – ich bin – verwöhnt. Weltfremd und verwöhnt. Aber das heisst nicht, dass ich mich nicht anpassen kann. Dass mir keine alternativen Hilfsmassnahmen einfallen. Oder dass ich nicht von anderen lernen kann. Das schönste Bild der letzten Woche ist für mich der Sänger Michael von der Heide, gelernter Pflegefachmann, der, statt über abgesagte Konzerte und ausgefallene Gagen zu jammern, seine Uniform anzieht und den Nachtdienst antritt. So geht es!
Immer wieder bin ich auch einfach glücklich. Trotz allem. Hier bin ich. Am Leben. Gesund. Mit dem Mann, den ich liebe. Der entgegen allen Voraussagen (noch) keine Ansteckungssymptome zeigt. Wir haben genug zu essen, der Stapel ungelesener Bücher reicht bis zur Decke. Meine Lesungen sind abgesagt, aber schreiben kann ich immer und überall. Die Katzen spielen. Der Garten wuchert wild. Es ist, als ob diese Bedrohung meine Sinne geschärft hätte. Alles hat einen besonderen Glanz: die Tulpen, die ich wohl zu tief gesetzt habe und die sich trotzdem tapfer aus der Erde kämpfen, die Blüten auf den zu kurzen Stielen – leicht komisch wirkend, überdimensioniert und leuchtend bunt. So überwältigend wie vorhin die Angst überschwemmt mich jetzt tiefste Dankbarkeit. Jede Zelle füllt sie aus. Dankbarkeit für dieses Leben, diese Liebe, diesen Atemzug und den nächsten. Und den nächsten.