Wir leben in rasanten Zeiten. Jede Theorie wird von der Praxis überholt, und wer über die Demokratie nachdenkt und sich die Frage stellt, warum sie uns allenthalben Kopfzerbrechen bereitet, weshalb wir in unserer Gesellschaft keinen Konsens mehr darüber finden, was Demokratie im Kern bedeutet, der muss damit rechnen, dass ihm, noch während er seine Gedanken aufs Papier bringt, die Wirklichkeit ein Exempel liefert, das seine Ausführungen auf die Probe stellt.
Gewiss, und das wird wohl unbestritten sein, gehört zu einer freiheitlichen Demokratie eine Rechtsordnung, eine einklagbare und der Willkür entzogene Regelung, die festlegt, auf welche Weise die Institutionen zu funktionieren haben, wie Entscheidungen zustande kommen und wie letzten Endes die Macht verteilt ist.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man einen Staat demokratisch organisieren kann: als Präsidialsystem wie in Frankreich oder parlamentarisch wie in Deutschland, die Demokratie mag entweder direkt oder repräsentativ sein: Gewiss aber sollte stets die Mehrheit entscheiden, die Gewalten sollten geteilt und die Gerichte unabhängig sein. Doch reicht das alles? Kann man, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, behaupten, dass man in einem freiheitlichen, demokratischen Staat lebt? Wohl kaum, denn vor all diesen notwendigen Bedingungen braucht es eine Voraussetzung, die sich nicht in Worte fassen lässt, die kein Gesetz formulieren kann und die, falls sie nicht erfüllt ist, von keiner Institution erstritten werden kann.
Dumm oder schamlos
Am vergangenen Mittwoch wurde in Erfurt der Kandidat der FDP im dritten Wahlgang zum neuen Ministerpräsidenten Thüringens gewählt. Der Mann erreichte die meisten Stimmen der Abgeordneten, was ihn gemäss der Verfassung zum neuen Regierungschef erkor. Und obwohl das Verfahren völlig rechtens war und den Gesetzen entsprach, führte die Wahl zu einer allgemeinen Empörung, zu einem landesweiten Entsetzen und stürzte nicht nur das kleine Bundesland im Osten Deutschlands, sondern die gesamte Bundesrepublik in eine schwere Krise. Der neue Ministerpräsident hatte sich nämlich nur mit den Stimmen einer rechtsextremen Partei in sein Amt hieven können. Trotzdem war er sich nicht zu schade, bei seiner ersten Rede im Amt zu beteuern, dass er mit diesen Faschisten, bei denen er sich doch eigentlich für seinen Posten hätte bedanken müssen, natürlich unter keinen Umständen zusammenarbeiten werde.
Ob dieser Mann zu dumm oder zu schamlos war, um den inneren Widerspruch zu bemerken, kann nicht geklärt werden; gewiss ist nur, dass er kaum vierundzwanzig Stunden später unter dem Druck der öffentlichen Meinung sein Mandat wieder zur Verfügung stellen und die Auflösung des Parlaments verlangen musste. Aber der Schaden war natürlich angerichtet. Noch analysiert die Öffentlichkeit die Ursachen und Folgen, sicher aber ist: Die Vorgänge in Erfurt stellen eine weitere Etappe in der fortschreitenden Unterhöhlung der freiheitlich-demokratischen Ordnung dar. Sie haben mehr als lokale oder nationale Bedeutung. In dieser Wahl spiegelt sich die Krise der westlichen Demokratien zu Beginn des 21. Jahrhunderts fast exemplarisch, und diese Krise ist zuvorderst eine Krise des Vertrauens.
Demokratie geht nicht ohne Vertrauen
Keine menschliche Gemeinschaft funktioniert ohne Vertrauen, keine soziale Interaktion kommt ohne es zustande. Ich gehe in ein Restaurant, lasse mir die Karte bringen, bestelle eine Mahlzeit und verzehre sie. Selbstverständlich tue ich dies, ohne vorher in der Küche die hygienischen Zustände überprüft zu haben. Im Gegenzug habe ich es nie erlebt, dass ein Restaurant Vorauskasse verlangt hätte, was in einer gewissen Logik durchaus sinnvoll wäre. Denn wie soll das Restaurant im Falle meiner Zahlungsunfähigkeit die erbrachte Leistung zurückfordern, da ich das Schnitzel bereits verputzt habe? Man vertraut mir, so wie ich dem Restaurant vertraue, denn wir beide wissen: Der Schaden, den wir beide erleiden könnten, steht in keinem Verhältnis zu den Folgen, die ein chronisches Misstrauen gegenüber meinen Mitmenschen haben würde. Auch wenn wir gelegentlich betrogen und hintergangen werden, geht es nicht ohne das Vertrauen. Ein Zusammenleben wäre schlechterdings nicht denkbar. Kontrolle ist gut, aber Vertrauen ist eindeutig besser.
Wir Menschen gehen ununterbrochen Verträge ein, deren Erfüllung nicht garantiert ist. Meistens haben diese Verträge bloss informellen Charakter und werden stillschweigend abgeschlossen. Aber selbst jene, die niedergeschrieben werden, sind ohne das gegenseitige Vertrauen und das Wohlwollen der Parteien wertlos. Kein Vertrag kann alle Missbrauchsmöglichkeiten abbilden. Wenn ich nicht überzeugt bin, dass mein Vertragspartner erstens ehrlich ist und wir beide zweitens nach demselben Geist des Vertrags handeln werden, dann werde ich diesen Kontrakt nicht unterschreiben. Misstrauen verhindert Kooperation. Nur das gemeinsame Verständnis von Recht und Billigkeit kann die Grundlage für einen Vertrag schaffen. Es muss, nach unserer Rechtsordnung, in den Klauseln gar nicht ausdrücklich aufgeführt werden, um Gültigkeit zu erlangen. Wir setzen darauf, dass alle Parteien den Vertrag nach Treu und Glauben erfüllen werden, oder, wie es im römischen Recht heisst, bona fide.
Auch unsere demokratischen Verfassungen sind Verträge, auch sie bedürfen des Prinzips «bona fide».
Solche Schlaumeiereien zerstören die Demokratie
Wichtiger als der Wortlaut eines Gesetzes sind sein Zweck und sein Geist. Und es ist genau diese Einsicht, die in unserer Gesellschaft immer mehr schwindet. Die Vorgänge in Thüringen sind dafür ein Menetekel. Denn es verstösst zwar nicht gegen den Buchstaben der Verfassung, wenn ein Politiker behauptet, mit Rechtsextremisten niemals zusammenzuarbeiten, und sich gleichzeitig von ebendiesen Rechtsextremisten wählen lässt. Aber es verstösst sehr wohl gegen Treu und Glauben. Wie stossend dieser Vorgang für das demokratische Empfinden ist, wissen alle Beteiligten, selbst die Rechtsextremisten. Dies beweist die Tatsache, dass sie den eigenen Kandidaten zum Schein im Rennen liessen, damit die Abgeordneten der sogenannt bürgerlichen Parteien nicht gezwungen waren, sich der Stimme zu enthalten, so wie sie es angekündigt hatten. Eine solche Taktik nennt der Volksmund eine Schlaumeierei, und es sind genau diese Finten, die das Vertrauen in die Demokratie zerstören.
Es ist nicht erstaunlich, dass es ausgerechnet eine liberale, um nicht zu sagen eine neoliberale Partei wie die FDP war, die den Willen zur Macht über die Sittlichkeit stellte. Der Opportunismus hat dort seit langer Zeit eine Heimat gefunden. Seit der Wende von der sozial-liberalen zur konservativ-liberalen Koalition im Jahr 1982, als Helmut Kohl Kanzler wurde, haben in dieser Partei jene Kräfte entschieden, die das eigene Interesse über das Gemeinwohl stellten. Jürgen Möllemann, Guido Westerwelle und der aktuelle Vorsitzende Christian Lindner, der sich bei der letzten Bundestagswahl aus parteitaktischen Motiven der staatspolitischen Verantwortung entzog – sie alle teilen ein Politikverständnis, das sich zuerst an wirtschaftlichen Prinzipien orientiert.
Mit Faschisten kann man keine Verträge schliessen
Und es ist vor allem ein Begriff, der dieses Denken dominiert und der in fast allen politischen Kräften unkritische Unterstützung fand und dadurch eine unheilvolle Hegemonie erlangte, der Wettbewerb nämlich. Demokratie allerdings ist weit mehr als ein Konkurrenzkampf, und der grösste Feind einer freiheitlichen demokratischen Ordnung ist die Verherrlichung der reinen Taktik. Der Glaubwürdigkeitsverlust der Demokratie ist die Folge einer Politik, die nicht nach «bona fide» handelt. Keine Institution kann uns vor jenen schützen, die den eigenen Opportunismus über den Geist der Demokratie stellen, die Gesetze nur als Rahmen verstehen, innerhalb derer sie die eigene Macht erlangen können, die jede Schlaumeierei gutheissen, selbst wenn dies bedeutet, mit Feinden der demokratischen Ordnung zu kooperieren. Mit Faschisten aber können keine Verträge abgeschlossen werden. Sie anerkennen das Prinzip von Treu und Glauben nicht, und wenn sie auch dem Wortlaut der Gesetze folgen, so verstossen sie doch umso mehr gegen ihren Geist.
Nach einzigen Jahrzehnten der totalen Ökonomisierung und nachdem das Konkurrenzdenken und der Kampf um die Wettbewerbsfähigkeit auch den letzten Lebensbereich erobert haben, scheint sich dieser Geist zu verflüchtigen. Zwar konnte die kritische, demokratische Öffentlichkeit diesen Ministerpräsidenten noch einmal verhindern – aber wie oft wird ihr das noch gelingen, wenn Teile der bürgerlichen Mitte keine Scham mehr zeigen, mit Faschisten zu kooperieren? In einer Zeitung, die man bis vor einiger Zeit noch für gemässigt halten konnte, machte sich der Kommentator über das Entsetzen in der Öffentlichkeit lustig und meinte mit Blick auf Thüringen, dies sei eben Demokratie. Der liberale Kandidat habe die Mehrheit der Stimmen erreicht, und er sei nicht dafür verantwortlich, wer ihn gewählt habe. Die Frage sei nur, ob es taktisch klug gewesen sei, die Wahl anzunehmen. Ein Denken, das sich dieser Argumente bedient, lässt sich mit einem Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Ordnung nicht in Übereinstimmung bringen. Und man muss fürchten, dass es weitverbreitet ist. Es sind die Folgen einer Entwicklung, die keine anderen Kategorien als den kurzfristigen Vorteil mehr gelten lässt und ausschliesslich der Hegemonie des Wettbewerbs und der totalen Konkurrenz zwischen den Subjekten das Wort redet. Dabei ist Sittlichkeit natürlich störend. Deshalb wurde der sogenannte «Gutmensch» als rückständig und als Entwicklungshindernis denunziert. Es wäre eine gute Idee, sich bewusst zu machen, dass die Zurückweisung aller Verantwortung für das Gemeinwohl und der Verlust von Treu und Glauben nicht in die Befreiung, sondern geradewegs in die Kerker des Faschismus führen.