Eine der lesenswertesten Neuerscheinungen der letzten Monate ist «The Age of the Strongman», ein Sachbuch des britischen Journalisten Gideon Rachman. Seit dem Jahr 2000, so Rachmans Beobachtung, taucht überall auf der Welt ein neuer Typus von Politiker auf – der «strong man», der Starke Mann. In der Türkei etwa heisst er Recep Tayyip Erdogan, in Ungarn ist es Viktor Orban, in Indien regiert Narendra Modi, in Brasilien Jair Bolsonaro, in Äthiopien Abiy Ahmed.
Allen gemein ist eine Politik, die auf Heldenmythen gründet, die beherrscht wird von aggressivem Nationalismus und dem Hass auf Minderheiten. Allen gemein ist ein Personenkult um einen Staatschef, der angeblich das Wohl des wahren Volkes gegen abgehobene Eliten verteidigt – und der darum ganz selbstverständlich die eigenen mit den Interessen des Landes gleichsetzt. Hinzu kommen die Missachtung des Rechtsstaats sowie die Nutzung der neusten Technik zur sozialen Kontrolle.
Der Strongman ist eine Bedrohung für jeden demokratischen Staat. Der aktuelle «Transformationsindex» der deutschen Bertelsmann-Stiftung zählt erstmals seit 2004 mehr autokratische als demokratische Staaten. Von 137 untersuchten Ländern werden nurmehr 67 demokratisch regiert, vor zwei Jahren waren es noch 74.
Starke Männer verschlimmern die Lage allerdings selbst in Nationen, die zuvor schon autoritär geführt wurden. Willkür, Menschenrechtsverletzungen und Grössenwahn nehmen darum auch in den Autokratien dieser Welt weiter zu. China ist dafür ein Beispiel, Saudi-Arabien ein weiteres. Dort war die Macht in den letzten Jahrzehnten auf mehrere Köpfe verteilt, innerhalb der Kommunistischen Partei respektive der saudischen Königsfamilie. Heute stehen mit Xi Jinping und Mohammed bin Salman zwei Figuren an der Spitze, die einen total personalisierten Regierungsstil pflegen.
Der Prototyp des Starken Mannes aber heisst Wladimir Putin. Sein Amt als russischer Präsident trat er am 31. Dezember 1999 an – zum Jahrtausendwechsel. Die Symbolik dieses Datums ist augenfällig: Der Strongman ist eine der zentralen politischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Natürlich gab es Diktatoren schon vor Putin. Der Strongman jedoch ist eben jener Diktator, der nach dem kurzen Frühling von Demokratie und Liberalismus während der 1990er-Jahre ausdrücklich und zuallererst gegen diese Grundvoraussetzungen für eine freie Welt zu Felde zieht. Sein Programm sind der Antiliberalismus und die geistige Verengung. Zumindest in unseren Breitengraden geht von diesem Programm solange eine Verlockung aus, als viele Menschen das Gefühl haben, dass es immer weniger zu verteilen gibt und dass sie die Verlierer sind.
Wladimir Putin diente und dient einer ganzen Generation von Despoten als Inspiration und Vorbild. Der Herrscher im Kreml zeigt indes auch, wohin solche masslose Kraftprotzerei über kurz oder lang unweigerlich führt: in Krieg und Tod, in Elend und Verderben. Als Prototyp des Starken Mannes führt uns Putin unmissverständlich vor Augen, dass es zum demokratischen Rechtsstaat und zur sozialen Marktwirtschaft keine Alternative gibt, die auf Dauer funktionieren kann. Und dass unsere modernen Gesellschaften nur friedlich, frei und selbstbestimmt existieren können – oder aber in Mord und Selbstmord enden.