Ich nehme mir ständig vor, das Handy mal zu Hause zu lassen. Für einmal befolge ich meinen Vorsatz – und dann das. Ich fahre mit dem Velo die Aare entlang, in einem Gebiet, wo es kleinere Tümpel gibt (für Menschen, die Bern kennen: oberhalb des Eichholz). Da entdecke ich etwas, was ich in der Schweiz in freier Wildbahn noch nie gesehen habe: eine Schildkröte.
In dem Moment merke ich, dass es mir nicht nur an einem Handy fehlt, um das unbekannte Tier zu fotografieren, sondern auch an Wissen. Handelt es sich um eine einheimische Schildkröte?
Zu Hause tue ich, was ich in solchen Fällen immer tue: mich an Fachleute wenden. In diesem Fall bei der Karch, der Koordinationsstelle für Amphibien- und Reptilienschutz in der Schweiz. Der Spezialist für Schildkröten heisst Andreas Meyer und muss mich leider gleich enttäuschen. «Bei praktisch allen in der Schweiz beobachteten Schildkröten handelt es sich um ausgesetzte oder ausgebüxte Haus- oder Gartenteichtiere», schreibt er.
Früher waren sie weitverbreitet
Zwar gibt es tatsächlich eine heimische Schildkröte, die Europäische Sumpfschildkröte. Im Kanton Genf etwa findet sich eine gut funktionierende Population. Allerdings fänden sich auch dort keine alteingesessenen Tiere, sagt Meyer. Viele davon stammten ursprünglich aus Südeuropa.
Die Europäische Sumpfschildkröte ist die einzige Schildkrötenart, die in Mitteleuropa vorkommt. Und sie ist fast überall selten. Der Lebensraum, in der ich das unbekannte Reptil entdeckt habe, wäre eigentlich ideal. Sumpfschildkröten mögen Altarme von Flüssen oder Teiche. Wo der Biber zu Hause ist, fühlen sich auch die Schildkröten wohl – hier können sie auf Ästen sonnenbaden. Bevor ihre Lebensräume trockengelegt und kanalisiert wurden, waren die Schildkröten in Europa häufig. In der Fastenzeit galten sie als beliebte Speise.
Was führt der Klimawandel im Schild?
Verbreiteter als heimische Schildkröten sind in der Schweiz inzwischen Exoten. Vor allem die nordamerikanischen Rotwangen- und Gelbwangenschmuckschildkröten. Es gebe, so erzählt Meyer, aber auch immer «Trouvaillen». So sei kürzlich eine Chinesische Weichschildkröte gesichtet worden. Noch gehe man davon aus, dass sich die fremden Arten nicht fortpflanzen könnten – was sich mit dem Klimawandel aber durchaus ändern könne.
Simon Jäggi (41) ist Sänger der Rockband Kummerbuben und arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.