Mit Fug und Recht kann man den Eindruck gewinnen, dass die Natur perfekt ist. Jahrtausende lang erprobt durch das Trial-and Error-Verfahren der Evolution. Sie entwickelte wundersame Phänomene wie den Navigationssinn der Zugvögel, die nach ihrer langen Reise denselben Baum wiederfinden. Paradiesvögel, die atemberaubende Balztänze aufführen. Geckos, die gleichzeitig an der Decke kleben und laufen können. Was die Natur hervorgebracht hat, ist verblüffend – und scheint makellos.
Dabei übersehen wir, dass die Evolution im Grunde eine Bastlerin ist. Längst nicht alles, was die Natur geschaffen hat, würde man so konstruieren, könnte man von vorn beginnen. Grund: Die Evolution fängt nicht auf einem weissen Papier an. Sie entspricht eher einem ständigen Ausprobieren, Umfunktionieren, Improvisieren.
Säugetiere sind zurück ins Wasser gestiegen und zu Walen geworden – mit dem unpraktischen Nebeneffekt, dass sie ständig auftauchen müssen, um Luft zu holen. Bei Menschen und vielen anderen Wirbeltieren zweigt die Luftröhre von der Speiseröhre ab, was die Gefahr eines Erstickungstodes mit sich bringt – ein klassischer Konstruktionsfehler.
Augen und Maul auf Wanderschaft
Auch Plattfische sind kein Ruhmesblatt der Evolution. Zu den Plattfischen gehören Flundern, Seezungen, Schollen oder der Heilbutt, der grösste Plattfisch überhaupt, der bis drei Meter lang und 400 Kilo schwer wird. Plattfische haben das aufrechte Schwimmen im Wasser aufgegeben und liegen auf ihrem Bauch, der eigentlich eine Seite darstellt. Sie kommen aber nicht als die platten Fische auf die Welt, wie wir sie von der Fischtheke her kennen.
Wenn Heilbutt und Co. aus dem Ei schlüpfen, gleichen sie gewöhnlichen Fischchen – aufrecht schwimmend im Wasser. Danach beginnt eine grundlegende Metamorphose, die bei Wirbeltieren eher selten ist. Beide Augen und das Maul wandern auf eine Körperseite – und zusammen mit ihnen auch eine Reihe von inneren Organen. Bei den Butten wird die rechte Körperseite zum Bauch, bei den Schollen die linke.
Und warum kommen Plattfische nicht schon platt zur Welt? Da würde die Evolution wohl, könnte sie denn reden, dieselbe Antwort geben wie alle Bastlerinnen und Bastler: «Egal, wie es aussieht – Hauptsache, es funktioniert!»
Simon Jäggi (40) ist Sänger der Rockband Kummerbuben und arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern.