Kolumne «Wild im Herzen» über das «Wassermonster» Axolotl
Der Unvollendete

Axolotl ist der aztekische Begriff für «Wassermonster» und benennt ein etwas gruseliges Tier – das die Menschen ungeheuer fasziniert. Denn der Axolotl wird nie erwachsen. Ein Rebell in Zeiten der Selbstoptimierung.
Publiziert: 07.05.2021 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 06.05.2021 um 17:50 Uhr
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Simon Jäggi

Was ist es, was den Axolotl so faszinierend macht? Auf den ersten Blick ist der Schwanzlurch aus Mexiko phlegmatisch und etwas gruselig. Aber in der Literatur oder Musik taucht die Amphibie immer wieder auf. Etwa in «Axolotl Roadkill», einer Literatursensation einer damals 18-jährigen Autorin. Später stellte sich heraus, dass sie in ihrem Erstlingswerk abgeschrieben hatte. Oder in einem Lied eines Musikers, den ich sehr schätze. Blixa Bargeld singt in einem Song: «Ich, das Axolotl / Will nicht werden / Was ich werden sollte / Ich will nicht werden / Was ich werden könnte.»

Das ist Musik gewordene Biologie.

Denn der Musiker spricht eine herausragende Besonderheit an: Zeitlebens verbleibt der Axolotl im Zustand einer Larve. Die für Amphibien übliche Metamorphose durchläuft er nicht. Das ist, wie wenn eine Kaulquappe immer grösser wird, sich aber nie zum Frosch verwandelt.

Das scheint die Menschen zu faszinieren: Ein Tier, das nie erwachsen wird. Ein Verweigerer. Ein Unvollendeter. Einer, der sein Potenzial nicht ausschöpft. Rebellentum in der heutigen Zeit der Selbstoptimierung.

In der Natur bedroht, als Haustier beliebt

Warum der Axolotl sich anders als andere Amphibien nie verwandelt und sein Leben im Wasser aufgibt, lässt sich wahrscheinlich mit seinem Lebensraum erklären. Der Lurch bewohnt einen See, der ausgerechnet im Moloch Mexiko-Stadt zu finden ist. Das Gewässersystem rund um den Xochimilco-See trocknet nie aus, daher hätte eine Metamorphose keinen evolutionären Vorteil.

In der Natur ist der Axolotl beinahe ausgestorben. Lebensraumverlust, Wasserverschmutzung und illegale Fänge haben die freilebende Population derart dezimiert, dass eine jüngst durchgeführte Zählung kein einziges Exemplar mehr zutage brachte. Gleichzeitig sind die bis 30 Zentimeter grossen Axolotl in aller Welt beliebte Haustiere.

Alles neu macht der … Axolotl

Auch die Wissenschaft ist vom «Wassermonster» fasziniert, wie die Bedeutung seines aztekischen Namens lautet. Er hat nämlich noch eine weitere, fast unglaubliche Fähigkeit. Sein Körper vermag abgetrennte Gliedmassen oder Organe wieder herzustellen – sogar Teile des Hirns oder des Herzens. Forschende sind daran, diese Regenerationsfähigkeit zu verstehen, um sie in der Medizin anwenden zu können – etwa bei schweren Verbrennungen.

Simon Jäggi (41) ist Sänger der Rockband Kummerbuben und arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.

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