Regelmässig wird die Forderung laut, die Kirche solle sich nicht in die Tagespolitik einmischen und uns nicht im Namen Gottes vorschreiben, für welche Partei oder welche Abstimmungsvorlage wir uns zu entscheiden haben.
Mit dieser Forderung bin ich einverstanden, wenn damit die Institution Kirche und ihre Repräsentanten gemeint sind: Priester, Bischöfe, Päpste. Diese dürfen ihr Amt nicht zur politischen Bevormundung der Menschen missbrauchen, so hat es in der katholischen Kirche bereits das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) festgelegt.
Niemand hat das Monopol
In vielen politischen Fragen kann man als Christ dieser oder jener Meinung sein, diese oder jene Partei wählen. Wie Papst Franziskus sagt: «Weder der Papst noch die Kirche besitzen das Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit oder für einen Vorschlag zur Lösung gegenwärtiger Probleme.» Aus diesem Grund ist jede moralische Gängelung seitens der Kirchenhierarchie abzulehnen. Diese darf nicht von oben herab mit dem Jesus-Stempel politisieren und jene als unchristlich hinstellen, die andere politische Präferenzen haben als der Pfarrer oder der Bischof.
Kleriker sollen Seelsorge betreiben und den Glauben lehren, die Politik aber den einzelnen Gläubigen überlassen. Diese können sich als mündige Bürger selber einbringen, in eigener Verantwortung, auf der Grundlage ihres Gewissens. Damit tritt die Institution Kirche in den Hintergrund und redet nur dann in die weltliche Sphäre hinein, wenn es um Grundsätze wie die Menschenrechte geht. Ansonsten übt sie Zurückhaltung und setzt bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens ganz auf den Einzelnen, auf das Individuum.
Im eigenen Namen
Diese Konzeption, dieser Vorrang des Individuums vor der Institution, könnte auch ein Weg für andere Konfessionen und Religionen sein, um sich in einer pluralistischen Demokratie friedlich und konstruktiv einzubringen: Die Leitung der Religionsgemeinschaft darf ihre Glaubensüberzeugungen verkünden, jedoch ohne diese für die Durchsetzung weltlicher Ziele zu missbrauchen. Und die einzelnen Angehörigen der Religionsgemeinschaft bringen sich im eigenen Namen in den demokratischen Wettbewerb der Ideen und Lösungsvorschläge ein.
Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Sein Buch «Das therapeutische Kalifat» ist im Fontis Verlag, Basel, erschienen. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.