Kolumne «Weltanschauung» von Giuseppe Gracia
Der Schweizer van Gogh

In St. Gallen wird derzeit der Künstler Antonio Ligabue (1899–1965) ausgestellt – und als Schweizer van Gogh präsentiert. Dabei wurde Ligabue hier zuerst zwangsinterniert und dann nach Italien abgeschoben.
Publiziert: 01.04.2019 um 07:51 Uhr
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Aktualisiert: 01.04.2019 um 11:41 Uhr
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BLICK-Kolumnist Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur.
Foto: Thomas Buchwalder
Der Churer Bischofssprecher Giuseppe Gracia verlässt das Bistum nach zehn Jahren Medienarbeit per sofort.
Giuseppe GraciaKolumnist

Zurzeit stellt das Museum im Lagerhaus in St. Gallen den Künstler Antonio Ligabue (1899–1965) aus. Das hat für St. Gallen, wo Ligabue aufwuchs, eine besondere Bedeutung. Denn heute wird der international bekannte Künstler zwar als «Schweizer van Gogh» gefeiert, aber zu Lebzeiten hatte man ihn wegen Landstreicherei und Kleinkriminalität des Landes verwiesen.

Ligabue ist der Sohn eines bis heute unbekannten Vaters und eines italienischen, in die Ostschweiz ausgewanderten Hausmädchens. Mit 18 Jahren wird der «verhaltensauffällige» Antonio, nachdem er verschiedene Fürsorgeinstitutionen im Kanton St. Gallen durchlaufen hat, in der psychiatrischen Anstalt St. Pirminsberg zwangsinterniert. Im Jahr 1919 wird er nach Italien abgeschoben.

Waldmensch und Tagelöhner

Ligabue beherrscht zu diesem Zeitpunkt nur Schweizerdeutsch und bleibt in Italien fremd, versteht weder die Sprache noch die südländische Kultur. Jahrelang wohnt er wie ein Wilder im Wald, psychisch angeschlagen. Gemäss Zeitzeugen schlägt er sich selber regelmässig mit Steinen, wenn ihn Verzweiflungsanfälle und paranoide Schübe heimsuchen.

Jahrelang verdingt sich Ligabue als Tagelöhner und Strassenbauarbeiter. Und wenn er künstlerisch tätig ist, setzt er sein Talent als Plakatmaler für gastierende Schausteller ein.

Viel zu späte Anerkennung

1961 kommt es durch einen Freund zu einer Ausstellung in Rom, die ihn schlagartig bekannt macht, über Italien hinaus. Eine Anerkennung, die Ligabue allerdings nicht mehr helfen kann: Er stirbt 1965 als verwirrter Einsiedler.

Wenn heute, 100 Jahre nach der Ausweisung, dieser Mann geehrt wird, ist dies nicht nur eine Gelegenheit, seine einmaligen Werke zu bewundern – sondern auch ein Anlass, sich zu fragen, was es bedeutet, wenn wir schwierige Menschen, die hier aufgewachsen sind, einfach aus dem Land werfen. Im Fall Ligabue ist das besonders bedenkenswert, weil er heute ja als «Schweizer van Gogh» promotet wird.

Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Sein Buch «Das therapeutische Kalifat» ist im Fontis Verlag, Basel, erschienen. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.

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