Der Tod von George Floyd durch einen US-Polizisten am 25. Mai löste weltweit Proteste aus. In ihrem Fahrwasser gab es in verschiedenen Städten Plünderungen, Sachbeschädigung und Gewalt. So kam es, auch von afroamerikanischer Seite, zu Kritik an Bewegungen wie Black Lives Matter, denen man vorwirft, das Leiden Betroffener auszunützen, um ihre eigene, aggressive Agenda zu verfolgen. Das mag stimmen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass es Rassismus gibt, auch bei uns in der Schweiz.
Andererseits kann man sagen: Nicht wenige Parteien und anti-rassistische oder anti-sexistische Gruppen brauchen Diskriminierung als Thema, um politisch zu punkten. Sie brauchen Täter und idealerweise eine strukturell rassistische, sexistische Gesellschaft, um als Opfergruppe wahrgenommen zu werden. Das bedeutet nicht, dass sie Diskriminierung erfinden. Aber es zeigt, wie schwer es ist, zwischen realen Missständen und politischen Profiteuren zu unterscheiden.
Abgesehen davon wird eine Gesellschaft nicht besser, sondern eher schlechter, wenn wir die Menschen pauschal in Opfer- und Tätergruppen einteilen und gegeneinander aufhetzen: Weisse gegen Schwarze, Inländer gegen Ausländer, Frauen gegen Männer.
Dein Geschlechtsorgan ist mir egal
Was helfen würde, das wären vielmehr gute Prinzipien des Zusammenlebens. Ein liberales Prinzip lautet: «Ich bin farbenblind. Deine Hautfarbe spielt keine Rolle. Ich beurteile Menschen nach ihren konkreten Handlungen, nach Persönlichkeit und Charakter.» Ein Prinzip, das der Bedeutung äusserer Merkmale eine Abfuhr erteilt: Ob weibliche oder männliche Geschlechtsorgane, ob diese oder jene Hautfarbe, es spielt keine Rolle.
Doch leider spielen Rasse und Geschlecht heute wieder eine sehr grosse Rolle, nicht nur in der Politik, sondern auch wenn es darum geht, Ämter und Jobs zu besetzen, oder darum, eine Filmserie zu entwerfen: Handelt es sich um eine Frau, eine Schwarze, eine Asiatin? Oder um einen weissen Mitteleuropäer?
Zum Zmittag wieder Vorurteile
Doch wenn sich eine Gesellschaft an Äusserlichkeiten orientiert statt an den Taten, der Persönlichkeit und den Kompetenzen einer Person, dann ist das ein Armutszeugnis. Dann scheinen wir wirklich so zu sein, wie uns der Dichter Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) sieht: «Gesetzt den Fall, wir würden eines Morgens aufwachen und feststellen, dass plötzlich alle die gleiche Hautfarbe haben, wir hätten garantiert bis Mittag neue Vorurteile.»
Giuseppe Gracia (52) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Sein neuer Roman «Der letzte Feind» ist soeben im Fontis Verlag, Basel, erschienen. In der BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.